Protokolle der 19. bis 24. Tagung aus den Jahren 2012 bis 2014:
19. Treffen an der Universität Tübingen am 5. und 6. Mai 2012
Anwesend waren in Tübingen: Tomonori Akashi (Bochum/Fukuoka), Klaus Antoni (Tübingen), Ulrich Brandenburg (Zürich), Michael Facius (Berlin), Yoshimi von Felbert (München), Ursula Flache (Berlin), Harald Fuess (Heidelberg), Eva Habereder (Tübingen), Unsuk Han (Tübingen), Till Knaudt (Heidelberg), Robert Kramm-Masaoka (Tübingen), Thomas Niess (Augsburg), Seon-Young Lee (Tübingen), You Jae Lee (Tübingen), Anna Rihlmann (Tübingen), Anke Scherer (Köln), Lars Schladitz (Erfurt), Jan Schmidt (Bochum), Natascha Schröter (Hamburg), Seiya Takemura (Hamburg), Carola Wanke (Heidelberg), David Weiß (Tübingen), Johannes Wilhelm (Wien), Shiro Yukawa (Bonn);
Vor den Vorträgen gab es eine Vorstellungsrunde, bei der alle Teilnehmenden knapp aus ihren aktuellen Projekten berichten konnten. Lars SCHLADITZ (Erfurt) promoviert zur Verflechtungsgeschichte des japanischen Walfangs in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts aus umweltgeschichtlicher Perspektive. Till KNAUDT (Heidelberg) promoviert zum Thema Studentenbewegung, Antiimperialismus und Linksterrorismus. Er berichtete von einem Forschungsaufenthalt in Hawaii am Takazawa-Archiv, das umfangreiche Bestände zur japanischen Studentenbewegung beherbergt. Carola WANKE (Heidelberg) am Institut für Ostasiatische Kunstgeschichte promoviert zu feministischer Kunst in Japan. Aktuelle mediengeschichtliche Projekte von Shiro YUKAWA (Bonn) bewegen sich unter anderem im Bereich Film im kolonialen Kontext und Medienpolitik in Manchukuo. Yoshimi VON FELBERT (München) schreibt aktuell an ihrer Doktorarbeit über Japanreiseberichte von der Meiji-Zeit bis zum 2. Weltkrieg. Seiya TAKEMURA (Hamburg) verfasst eine Masterarbeit zu Jenseitsbildern in der japanischen mittelalterlichen Literatur. David WEISS (Tübingen) hat gerade seine Masterarbeit zur frühgeschichtlichen Mythologie eingereicht und plant nun eine Promotion im gleichen Themenbereich. Tomonori AKASHI (Bochum/Fukuoka) promoviert zur Einführung des modernen Gefängniswesens in Japan. Jan SCHMIDT (Bochum) promoviert zur Revision des Einflusses des 1. Weltkriegs auf Japan. Er stellte seinen Plan vor, eine europäische Forschungsgruppe zur japanischen Mediengeschichte zu gründen und freut sich über weitere Interessentinnen und Interessenten. Johannes WILHELM (Wien), arbeitet aktuell zur Katastrophe in Tôhoku. Anke SCHERER (Köln), arbeitet zur japanischen „convenience culture“ und kulturellen Konzepten der „convenience“ und bricht dazu bald zu einer Forschungsreise nach Japan und Taiwan auf. Ursula FLACHE (Berlin), Fachreferentin für Japan an der Staatsbibliothek Berlin berichtete über aktuelle Dienstleistungen und Entwicklungen der Fachbestände. Sie stellte in Aussicht, dass der Zettelkatalog zu älteren japanbezogenen Beständen bis zum Ende des Jahres zu etwa 80% digital in NACSIS eingespeist sein wird. Sie weist zudem auf die laufende Digitalisierung von etwa 4000 westlichsprachigen und 500 japanischen Titeln über ein DFG-Projekt hin. Klaus ANTONI (Tübingen), arbeitet zu japanischer Religion, insbesondere Shintô und seiner Beziehung zur politischen Ideenwelt. Er kündigt das baldige Erscheinen einer kommentierten Übersetzung des kojiki bei Suhrkamp an. Ulrich BRANDENBURG (Zürich), promoviert zur Geschichte der Konversion von Japanern zum Islam. Michael FACIUS (Berlin) promoviert zum Thema „Chinesisches Wissen und Globalisierung in Japan im 19. Jahrhundert“. Robert KRAMM-MASAOKA (Tübingen) forscht zu Hygiene und Prostitution während der amerikanischen Besatzung nach dem zweiten Weltkrieg.
Den ersten Vortrag bestritt CAROLA WANKE (Heidelberg) zum Thema „NinPu. Partnerschaftliche Rollenverteilung im Werk der Künstlerin Okada Hiroko“. Dem Vortrag liegt eine kunstgeschichtliche Dissertation zugrunde. Deren Ziel ist eine Überblicksdarstellung zur Geschichte japanischer feministischer Kunst.Wanke ordnete ihre Arbeit in den Kontext feministischer Kunstkritik ein. In Japan, so Wanke, gibt es diese erst seit den mittleren 1990er-Jahren, mit Chino Kaori und Wakakuwa Midori als Vorreiterinnen. Anfänge feministischer Kunst — darunter verstand sie nicht nur Kunst offen feministischer Kunstschaffender, sondern auch Kunst, die Gender/Geschlecht thematisiert — verfolgte sie bis in die 1980er-Jahre zurück.
Der Hauptteil des Vortrags war einer ausführlichen Besprechung der Video-Installation „The delivery by male project“ von Okada Hiroko gewidmet. Die Installation setzt sich aus zwei parallel ablaufenden Videos zusammen. Im ersten Video ist die Geschichte eines Mannes zu sehen, der nach einem Lotteriegewinn seinen Job kündigt und ein Kind gebärt. Man sieht ihn unter anderem beim Test von Spielzeugen und während einer gynäkologischen Untersuchung. Im zweiten Video gibt die „Soziologin Mutô Kaori“ Kommentare und medizinische Erklärungen zur Funktionsweise der männlichen Schwangerschaft ab.
Anhand der Video-Installation stellte Wanke ihre Analyse zu Humor und Parodie als feministischer Strategie vor. Humor, so Wanke, erleichtert dem Publikum die Auseinandersetzung mit der fremden oder auch abstoßenden Wirkung der Bilder von Menschen, die die Grenzen der Geschlechterbinarität überschreiten. Der Titel der Installation, NinPu („Schwangerer Mann“) ist ein Wortspiel zu „Schwangere Frau“, das bei gleicher Aussprache mit einem anderen Schriftzeichen geschrieben wird. Titel und Kunstwerk dekonstruieren spielerisch den Geschlechterdualismus. Zugleich verweisen sie auf japanische Diskurse über Verantwortung von Männern im Ehe- und Familienleben.
In der anschließenden Diskussion wurden Zweifel angemeldet, ob Anfänge feministischer Bewegung und Kunst in Japan tatsächlich erst um 1990 zu verorten seien, bzw. welche Relevanz und Sichtbarkeit frühe, „protofeministische“ Kunst und Aktion hatte, etwa im Kontext der Studierendenbewegung. Zudem wurde das Verhältnis von westlicher feministischer Theorie und japanischen Anknüpfungspunkten in japanischer feministischer Kunst allgemein und speziell in Okadas Installation diskutiert, etwa in literarischen und volksreligiösen Monsterfiguren (bakemono), die mitunter Verwandlungen vom Mann zur Frau vollziehen, oder in schauspielerischen Praktiken des cross-dressing (onnagata).
DAVID WEISS (Tübingen) hielt einen Vortrag zum Thema „Susanoo. Ein Kulturheros aus Korea?“ auf Grundlage seiner Masterarbeit zur Mythenforschung. Darin setzte Weiss sich kritisch mit der von James Grayson aufgestellten These auseinander, dass es sich bei der Gottheit Susanoo aus den frühen japanischen Mythensammlungen um einen „Kulturheros“ (á la Prometheus) aus Korea gehandelt habe. (1)
Weiss analysierte die Figur, wie sie in den Mythensammlungen des frühen achten Jahrhunderts, kojiki und Nihon shoki, in Erscheinung tritt. Dabei zeigte er, dass Susanoo durchaus ambivalentes Verhalten an den Tag legte. So gilt er zwar als Schutzgottheit des Ackerbaus, zerstörte aber andererseits die Reisfelder seiner Schwester, der Sonnengöttin Amaterasu. Weiss interpretierte Susanoo daher eher als eine „Trickster“-Figur, die zwar nicht durchweg bösartig ist, aber gegen Normen verstößt, unzuverlässig ist, oder scheitert und oft auch komische Charakterzüge trägt.
Im zweiten Teil des Vortrags beleuchtete Weiss die Frage der Herkunft von Susanoo. Der Name der Gottheit und seine Wohnorte stehen auf vielfältige Art und Weise mit Korea in Verbindung, teils auch sprachlich, wie vergleichende linguistische Untersuchungen zeigen. Weiss schloss sich aber der Einschätzung des Mythenforschers Mishima Akihide an, es sei heute unmöglich herauszufinden, auf welchen realen Ort die Texte verweisen. Wichtiger seien ohnehin die mythischen Vorstellungen, die damit verbunden sind.
Die Diskussion erbrachte einige kritische Rückmeldungen und Hinweise: So gälte es, die nationalen Einheiten „Korea“ und „Japan“ als Analyserahmen zu hinterfragen, da die politische und kulturelle Konfiguration Nordostasiens im Altertum die Rede von „Japan“ und „Korea“ anachronistisch erscheinen lasse. Zudem sei der Blick auf das Altertum, auch der historiografische, in Japan und Korea stark nationalistisch aufgeladen. Ebenfalls seien die verschiedenen Rollen von Susanoo zu problematisieren, da die Quellen, in denen Susanoo auftaucht, auch vor dem Hintergrund zu lesen seien, dass sie dem Yamato-Staat durch Rückprojektion und Vergöttlichung kaiserlicher Genealogien der Legitimierung von Herrschaft dienten. Ein Vergleich mit koreanischen Werken wie dem samguk sagi und samguk yusa aus dem 12./13. Jahrhundert sei hier aufschlussreich. Auch wurde gefragt, was sich aus der Analyse über das klassische Japan und seine Beziehungen zu Korea lernen lässt, wenn man einen Schritt aus der Mythenforschung heraustritt. Weiss betonte allerdings, dass seine Absicht hauptsächlich in einer vergleichenden strukturalistischen Literaturanalyse liege.
YOSHIMI VON FELBERT (München) präsentierte den nächsten Vortrag, „ ‚Chrysanthemum and the Word‘ — John Morris‘ kulturelle Musterungen in ‚Traveller from Tokyo‘ “. John Morris (1895–1980) war Soldat im ersten Weltkrieg, studierte Sozialanthropologie in Cambridge und ging 1938 nach Japan, um an der Keiô-Universität englische Literatur zu unterrichten. Nach dem Krieg war er bei der British Broadcast Company im Klassikprogramm tätig. Morris war auf Anraten der japanischen Regierung nach Japan gekommen und erledigte Korrekturarbeiten für das Außenministerium. Er lehrte noch bis acht Monate nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, bevor er plötzlich ausreiste. Nach seiner Rückkehr schrieb er einen Reisebericht, „Traveller from Tokyo“ (2); er hatte jedoch keine Notizen mitnehmen dürfen und musste daher alles aus eigener Erinnerung aufschreiben, wodurch dem Text eine literarische Qualität eignet. Der Reisebericht ist unpolitisch und nicht-militärisch, mit einem Fokus auf dem täglichen Leben.
Von Felbert wählte in ihrem Vortrag den Zugang, den „Traveller“ mit Ruth Benedicts klassischem Werk „The chrysanthemum and the sword“ zu vergleichen. Benedict hatte das Buch während des Zweiten Weltkriegs als Handbuch im Auftrag der US-Regierung verfasst, um den Feind verständlich zu machen. Im Vergleich arbeitete von Felbert heraus, dass Morris anders als Benedict nicht von einer genuin japanischen Volksseele ausging, sondern zwischen Staat und Militär einerseits, Studierenden und Englisch-Lehrenden usw. aus seinem täglichen Umfeld andererseits unterschied. Mit dieser differenzierten Betrachtung stellte er eine große Ausnahme unter den westlichen Beobachtern jener Zeit dar.
In der Diskussion kam die Frage auf, wie man Morris in Japan nach dem Krieg sah. Da er eine Trennung zwischen seiner akademischen Tätigkeit und politischem Engagement aufrechterhielt und sich als neutraler Beobachter verstand, wurde er nach dem Krieg nicht geringgeschätzt, so von Felbert. Im Gegensatz zu Benedicts Buch sei der Reisebericht von Morris jedoch in Japan vergleichsweise unbekannt.
Den letzten Vortrag des Treffens hielt MICHAEL FACIUS (Berlin) zum Thema „Katastrophen und Emotionen in Japan. Ein historischer Problemaufriss“. Facius wies eingangs darauf hin, dass die Projektidee vor der Katastrophe in Nordostjapan vom März 2011 entwickelt wurde und bedauerte, dass sie nun auf diese Art an Aktualität gewonnen habe.
Einleitend stellte Facius die Forschungskontexte des Projekts vor: erstens die neuere historische Katastrophenforschung, die Katastrophen als soziale Konstrukte versteht und etwa nach kulturellen Deutungs- und Reaktionsmustern fragt; zweitens die Emotionsgeschichte, die die Geschichtlichkeit von Emotionen postuliert und diese unter anderem in Form „emotionaler Regimes“ oder „emotionaler Gemeinschaften“ untersucht, also als gesellschaftlich wirksame Phänomene; und schließlich die Globalgeschichte, die in dem Projekt ins Spiel kommt, um zu durchdenken, wie historische Globalisierung oder auch die globale Medienberichterstattung von heute den emotionalen Umgang mit Katastrophen verändert hat.
Als Fallbeispiel wählte Facius die Umweltverschmutzung in der Ashio-Kupfermine in den 1890er-Jahren und stellte die Reaktionen des Politikers und Aktivisten Tanaka Shôzô vor. Er zeigte, wie Tanaka in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche emotionale Stile einsetzte, beispielsweise einen rationalpolitischen Diskurs im Parlament, persönliche Sorge um den emotionalen Zustand der betroffenen Bevölkerung in einem Brief an einen befreundeten Aktivisten oder einen konfuzianisch geprägten Aufruf zum Mitgefühl in einer direkten Petition an den Kaiser. Das Projekt, so Facius, soll zu einem systematischen Verständnis von emotionalen Umgangsformen mit Katastrophen in der japanischen Geschichte beitragen.
Die Diskussion verwies auf einige der Problemfälle, mit dem die historische Emotionsforschung als Ganzes zu kämpfen hat: Welche Definition von Emotionen bringt man zum Anschlag und wie findet man diese in den Quellen? Verweisen Schriftzeichen mit Herz-Radikal geradewegs auf Emotionen? Wie behandelt man die nichtsprachlichen und körperlichen Aspekte von Emotionen, also „emotionale Praxen“ wie Tränen, Gesten und Rituale? Zur Frage nach dem japanischen Forschungsstand antwortete Facius, dieser biete eine fruchtbare Grundlage in Bereichen wie der Ideengeschichte, der Religionsforschung oder Volkskunde, wo man auf Studien zu Katastrophenvorstellungen oder konfuzianische Affekttheorien zurückgreifen könne; Emotionalität als systematischer Forschungsgegenstand sei jedoch noch wenig erschlossen.
Eine Podiumsdiskussion zum Wert globalgeschichtlicher Ansätze für die japanische oder ostasiatische Geschichte erweiterte schließlich die Perspektive von den Fallstudien hin zu grundsätzlicheren Fragen der Geschichtsschreibung. Den Einstieg machte ROBERT KRAMM-MASAOKA (Tübingen) mit einem Übersichtsreferat zu Themen und Perspektiven globalgeschichtlicher Forschung.
HARALD FUESS (Heidelberg) berichtete sodann aus seiner eigenen Forschung über eine Geschichte der Hafenstadt Yokohama in der Zeit der ungleichen Verträge ab den 1860er-Jahren. Darin untersucht er transkulturelle rechtliche Konflikte — Vertragsstreitigkeiten zwischen einem Russen und einem Japaner etwa ? die sich aus dem System der Konsulargerichtsbarkeit ergaben. Ausgehend davon plädierte Fuess dafür, Globalgeschichte von einer Verankerung in der Mikroebene aus zu schreiben und diese mit größeren Entwicklungen zu verknüpfen. Globalgeschichtliche Ansätze müssten auch dazu dienen, überkommene intellektuelle Vorgaben der Japanologie zu hinterfragen, indem beispielsweise Vergleiche und Vernetzungen der japanischen Geschichte stärker bearbeitet würden. Gleichzeitig warnte er davor, dass Globalgeschichte nicht in „intellektuellen Imperialismus“ ausarten dürfe, indem etwa westliche Globalhistoriker asiatische Kolleginnen und Kollegen dafür kritisieren, dass sie „noch“ Nationalgeschichte schreiben.
Danach sprach UNSUK HAN (Seoul, Gastprofessor in Tübingen) über Globalisierung und Globalgeschichte aus asiatischer Sicht. Er berichtete, dass in Korea etwa seit dem Jahr 2000 Interesse an globalgeschichtlichen Ansätzen zu bemerken sei. So gab es 2006 eine Tagung der Historiker für westliche Geschichte mit dem Titel „Was ist für uns das Abendland ? Jenseits der eurozentrischen Okzidentgeschichte“. Daran zeige sich, dass nicht die Geschichte der Globalisierung oder transnationale Geschichte den Ausgangspunkt bildeten für eine koreanische Beschäftigung mit der Globalgeschichte, sondern vielmehr die Kritik an eurozentrischen Perspektiven. Dieses Interesse sei nicht zuletzt der eigenen Erfahrung der Kolonialisierung durch Japan geschuldet. Han machte in Japan bessere Vorbedingungen für globalgeschichtliche Ansätze aus, da es dort eine stärkere Tradition empirischer Forschung gebe. Zum Vergleich europäischer und asiatischer Versionen von Globalgeschichtsschreibung empfahl Han Dominic Sachsenmaiers Buch „Global perspectives on global history“ (3).
Die Podiumsvorträge leiteten eine lebhafte Diskussion ein, die eine Vielzahl von Fragen zur intellektuellen wie zur institutionellen Seite der Globalgeschichte ansprach. Eine streitbare These war etwa, dass Globalgeschichte auch Nationalgeschichte in neuem Gewand sein könne, wenn etwa koreanische Geldgeber Projekte in Deutschland fördern, die eine Dezentrierung Europas zugunsten Koreas betreiben. Daraus ergab sich die Frage, ob Globalgeschichte mit ihrem hohen konzeptionellen Anspruch an eine multizentrische und mithin anti-nationalistische Geschichte noch „unschuldig“ sei? Wo hat sie in ihrer Praxis der letzten zwanzig Jahre und ihrer zunehmenden Bedeutung bereits neue, eigene Ausschlussmechanismen produziert — durch ihren Zugang (Was geschieht mit den nicht-verflochtenen, nichttransnationalen, mit den „nur“ deutschen oder europäischen Themen?), aber auch institutionell: So hat die Universität Erfurt vor einigen Jahren die Ostasien-Fächer abgewickelt, richtet nun aber einen Lehrstuhl für „Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts“ ein.
Wie man die aktuellen Forschungstrends im Ganzen auch beurteilen mag — die Vorträge der Tagung deuten an: Auch ohne dass jedes Projekt ausdrücklich als „globalgeschichtlich“ etikettiert wäre, scheint der wissenschaftliche Nachwuchs (denn es wurden ja Postdoc‑, Promotions- und Masterprojekte vorgestellt) bei Zugang und Themenwahl deren Leitideen der Verflechtung, des Anti-Eurozentrismus, des transnationalen, regionalen, und globalen Blicks bereits als einen maßgeblichen „Denkstil“ zu verinnerlichen.
(1) James H. Grayson, Susa-no‑o: a culture hero from Korea, in: Japan Forum 14,3 (2002), S. 465–487 zurück zum Text.
(2) John Morris, Traveller from Tokyo, London 1943 zurück zum Text.
(3) Dominic Sachsenmaier, Global perspectives on global history: theories and approaches in a connected world, Cambridge 2011 zurück zum Text.
Tagungsbericht 19. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung. 05.05.2012–06.05.2012, Tübingen, in: H‑Soz-u-Kult, 19.09.2012.
(Protokoll: Michael Facius)
20. Treffen an der Universität Heidelberg am 3. und 4. November 2012
Anwesend waren in Heidelberg: Baba Akira (Universität Tôkyô, gerade Bonn), Christiane Banse (Heidelberg), Anja Batram (Bochum), Christian Dunkel (Staatsbibliothek Berlin), Jonas Gerlach (Köln), Lisa Hammeke (Bochum), Itô Kaori (Universität Kyûshû, gerade Bochum), Rebecca Mak (Heidelberg), Anica Katzberg (Bonn), Daria Kupis (Bochum), Hans-Martin Krämer (Heidelberg), Till Knaudt (Heidelberg), Robert Kramm-Masaoka (Zürich), Madeleine Maier (Bochum), Martha Menzel (Heidelberg), Morikawa Takemitsu (Luzern), Christian Schimanski (Bochum), Jan Schmidt (Bochum), Shigemoto Yuki (Universität Kyûshû, gerade Bochum), Wolfgang Seifert (Heidelberg), Nora Stifter (Bochum), Detlev Taranczewski (Bonn), Friederike Turowski (Bochum), Melina Wache (Bochum), Yamaguchi Teruomi (Universität Kyûshû, gerade Bochum), Yukawa Shiro (Bonn);
1. Vorstellungsrunde:
Christian DUNKEL von der Staatsbibliothek Berlin wies abermals auf das Digitalisierungsprojekt der StaBi hin und regte an, Wünsche für Testzugänge bestimmter Datenbänke bitte an die StaBi weiterzuleiten. Detlev TARANCZEWSKI beschäftigt sich weiterhin mit dem Projekt „Wasser in Asien“, und arbeitet darüber hinaus zu „Macht und Herrschaft im transkulturellen Vergleich in der Vormoderne“ und den burakumin und deren Vorläufern. Jan SCHMIDT wies auf die „Bibliographie zur historischen Japanforschung“ hin, der er zusammen mit Maik Hendrik SPROTTE betreibt. Inzwischen wurde die „Bibliographie zur historischen Japanforschung“ in das Datenbank-Informationssystem (DBIS) aufgenommen, was uns als Zeichen der Anerkennung unserer Arbeit besonders freut. Im November 2012 konnte zudem der 1100. Datensatz in die Datenbank eingearbeitet werden. Es steht auf der Seite der Bibliographie unter ein Formular zur Verfügung um eigene neue oder allgemein noch in der Datenbank fehlende Titel zu melden.
2. Vorträge:
Der Vortrag von Jonas GERLACH (Köln) „Baugedanke und Missionspolitisches Kalkül der Jôdo shinshû zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ befasste sich im Rahmen seiner Dissertation mit den buddhistischen Tempelanlagen in Japan ab der Meiji-Zeit. Das Ziel des Vortrags war es, die herausgearbeiteten Hintergründe für diese neuen Formen der Gestaltung von Tempeln der Jôdo shinshû zu präsentieren und die Folgen, die sich nach Meinung GERLACHS aus der Aufnahme der neuen Elemente ergeben haben, zur Diskussion zu stellen.
In seinem Vortrag gab GERLACH zunächst einen Überblick über die bauhistorischen Entwicklungen buddhistischer Tempel ab der Meiji-Zeit bis zum 2. Weltkrieg. In diesem Zuge ging er auch auf wichtige Personen, wie den Architekten Itô Chûta (1867–1954) und den 22. Hôshu der Jôdo shinshû Nishihonganji-ha, Ôtani Kôzui (1876–1948), ein, die hinter den Tempelbauprojekten steckten, bei denen europäische Bautechniken und Materialien, aber auch indische Stilelemente genutzt worden seien. Zuletzt kam GERLACH auf die Motivation bzw. Hintergründe für die Gestaltung dieser Bauten und die Folgen zu sprechen, die sich seines Erachtens aus den neuen Entwicklungen ergaben.
Als Hintergründe für die Referenzen zu indischer und südostasiatischer Architektur in den neuen Tempelanlagen nannte GERLACH erstens das Selbstverständnis der Jôdo shinshû von sich als universellen Buddhismus, was auch die Tempelbauten widerspiegeln sollten. Außerdem habe die Jôdo shinshû auch in anderen Bereichen stets ihre Verwurzelung auf dem asiatischen Festland betont, um auf ihre Nähe zum „ursprünglichen“ Buddhismus hinzuweisen. Teilweise spiegelten GERLACH zufolge die Tempel auch die politischen Ambitionen der Zeit wieder, wie zum Beispiel durch den Bau der zweiflügeligen Tempelanlage Nishi-honganji Tsukiji-betsuin von Itô Chûta aus dem Jahr 1934, die an westlich-imperialistische Bauten erinnere.
Die Veränderungen am Tempelbau — mit dem Tempelbegriff sei jeweils ein gesamtes Tempelgebiet gemeint — seien also keinem religiösen Programm geschuldet gewesen, sondern hätten, so GERLACH am Schluss, politische, weltliche und taktische Hintergründe. Als Folge sei der religiöse Sinn dieser Bauten verschwunden und nur so hätten buddhistische Bauformen auch an nicht religiösen Bauten erscheinen können, zum Beispiel die Stûpa auf dem Bahnhof von Nara.
Eine der Rückfragen war die nach dem Neuen in der Übernahme von Elementen. Darauf antwortete GERLACH, dass das Neue im Verlorengehen der rituellen Dimension gelegen habe („Bei der Stûpa auf dem Bahnhof kann man nicht mehr um sie herumgehen.“). Neben den Rückfragen zum Inhalt des Vortrags gab es die Anregung nachzuforschen, ob es, wie bei den Nihon-ga, auch in der Architektur nicht nur zu einer einseitigen Übernahme, sondern auch zu Austauschprozessen zwischen Japan und Indien gekommen sei.
Robert KRAMM-MASAOKA (Zürich) stellte mit seinem Vortrag „VD contact tracing und hybride Toiletten: Diskurse und Praktiken der Regulierung von Geschlechtskrankheiten und Intimität während der US-Okkupation Japans“ einen Teil seines Dissertationsprojekts vor. In Anlehnung an die und unter Anwendung von Methoden und Begriffen der postkolonialen Studien untersucht er konkrete Techniken der Regulierung von Prostitution, Sexualität, Intimität und Geschlechtskrankheiten und deren Umsetzung in den alltäglichen Praktiken, um die Komplexität der besatzungszeitlichen Begegnungen zwischen dem Besatzungspersonal und der japanischen Gesellschaft zu verdeutlichen. Eine Untersuchung konkreter Regulierungspraktiken zeige, erstens, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in denen diese Begegnungen stattfinden, denen in früheren kolonialen Formationen ähnelten, jedoch zunehmend durch die neokolonialen Machtverhältnisse während des Kalten Krieges geprägt seien. Zweitens, könne durch den Gegenstand veranschaulicht werden, dass während der Besatzungszeit auch in Bereichen (wie z.B. sanitäre Praktiken der Besatzungstruppen), in denen es weniger zu vermuten ist, kein eindeutiges, eindimensionales Herrschaftsgefälle bestand, sondern eben auch hier bestimmte Handlungsräume und ‑kompetenzen der Besetzten bestanden haben sollen.
Anica KATZBERG (Bonn) behandelt in ihrer MA-Arbeit, die sie mit ihrem Vortrag „Der Filmerklärer — Vergleich zwischen Europa und Japan“ vorstellte, Beruf und Funktion des Filmerklärers, ein nicht nur auf Japan beschränktes Phänomen, das in den 1970er Jahren international als Teil der Filmaufführungskultur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt wurde. Sie versuchte dabei die Stellung des Filmerklärers als Institution im Vergleich zwischen Japan und Deutschland zu erläutern. Neben den historischen Ursprüngen verschiedener Projektionstechniken und der Filmerklärer sowohl in Japan als auch in Europa ging KATZBERG näher auf die Funktion des Filmerklärers (jap. benshi) ein. Diese ergab sich dadurch, dass in den zum großen Teil aus Europa importierten Filmen europäische Sitten und Gepflogenheiten dargestellt wurden, die dem japanischen Publikum nicht geläufig waren. Zudem wurden durch den benshi Informationen zum Medium Film an sich und zur Technik der Darstellungsform gegeben. Da die benshi zum Teil sehr große Popularität genossen und durch ihre Erklärungen Einfluss auf den Charakter des Films nehmen konnten, geht KATZBERG davon aus, dass dadurch der Film in den Hintergrund gedrängt und das Rezeptionsverhalten des Publikums beeinflusst wurde.
YUKAWA Shiro (Bonn) befasste sich in seinem Vortrag „Medialität von Quellen aus dem Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ mit der Reproduktion einer Quelle als Gegenteil des Originals und der damit einhergehenden Minderwertigkeit dieser Dokumentationsmedien. Ausgehend von einem Aufsatz von Walter Benjamin („Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 1936 (franz.), 1955 (de.)), in dem der sprachliche Niederschlag epistemischer Grundeinstellungen zu technischen Medien seit dem 20. Jh. und die „Echtheit einer Sache“ behandelt werden, stellte YUKAWA die Frage, was mit einem Medium geschieht, wenn nur noch die Reproduktion selbiger existiert. Vor dem Hintergrund der rapide anwachsenden Anzahl von Medien und der problematischen Dauerhaftigkeit selbiger stellte YUKAWA einige Problemfelder vor. 1) Die Rekonstruktion der Herkunft ist bei vom Original entkoppeltem Besitz einer Reproduktion problematisch. 2) Bei Verfall von Medien ist ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr beurteilbar, ob es als Unikat vorliegt. 3) Die Dokumentation von Medien (Was liegt wo?) ist nicht vollständig.
Als Ideal stellt YUKAWA vor, dass so viel wie möglich digitalisiert, konserviert, archiviert und somit tradiert würde. Jedoch mangele es an einer Sensibilität für die Problematik, Geld und Zeit für die Umsetzung entsprechender Maßnahmen, an Interesse, Netzwerken, Fachwissen für Archivierung, Wille und Geduld. Als Problemlösung regt YUKAWA dazu an, eine intensivere Beschäftigung mit Theoremen und Methoden zur Nutzbarmachung von Bildquellen usw. zu entwickeln und Materialien, Interessen und Interessierte besser zu vernetzen. YUKAWA zog als Beispiel seine Bemühungen in der Bonner Japanologie um den Nachlass von Friedrich M. Trautz heran.
In der anschließenden Diskussion kamen zunächst Fragen zur Realisierbarkeit auf (Wo anfangen? Was aufheben? Alles, was heute existiert könnte irgendwann von historischem Interesse sein). Es wurde vorgeschlagen, auch Finanzierungsmöglichkeiten von japanischer Seite ins Auge zu fassen und dazu angeregt, dass zunächst ein Überblick über Quellen/Medienbestände in Deutschland geschafft werden sollte. Auch eine Schärfung für die Bedeutung der Materialien sollte angestrebt werden, da nur eine steigende Bedeutung derer als Schlüssel für Finanzierungsmöglichkeiten diene. Zudem wurde über die Vereinbarkeit des „Nostalgischen des Auratischen“ eines Mediums mit einem für ein solches Großprojekt doch notwendigen Pragmatismus diskutiert.
Christiane BANSE (Heidelberg) befasst sich in ihrer MA-Arbeit, die sie mit ihrem Vortrag „Christentumkritik im Japan des späten 19. Jahrhunderts am Beispiel der Jôdo-Shinshû“ vorstellte, mit den Gründen und Strategien der Christentumkritik der Jôdo-Shinshû (im Folgenden JS) im späten 19. Jahrhunderts mit Fokus auf die Person Shimaji Mokurai (1838–1911). Die Möglichkeit, dass an die Christentumskritik des 17. Jh (1690 Ha daisu, 1639 Kirishitan monogatari, 1642 Ha kirishitan) angeknüpft wurde, verwirft BANSE mit Hinweis auf nicht vorhandene Schriften der JS unter den erhaltenen Kritikschriften. Stattdessen werden von Shimaji folgende, auf Aussagen des JS-Priesters Gesshô (1603–1868) basierende, Kritikpunkte angeführt: Das Christentum bedrohe das Land, der Buddhismus diene als geistiges Bollwerk. Der im Zuge der Meiji-Restauration an Bedeutung verloren habende Buddhismus wird so durch die Christentumskritik in seiner existenziellen Rolle bestärkt. Shimajis Involvierung in den christentenfeindlichen Verlag Tetsugaku shôen lassen laut Banse dabei annehmen, dass sein Einfluss größer war als bisher angenommen. BANSE sprach im Weiteren sowohl einige inhaltliche Punkte von Shimajis Kritik an, die eine gewisse Kontinuität zu der des 17. Jhs. aufweisen als auch seine Rezeption westlicher Denker wie Henry Ball und Ernest Renaud an.
In der Diskussion merkte Wolfgang SEIFERT zunächst an, dass die Christentumskritik auch als Ideologiekritik gewertet werden könnte. Das Christentum würde in dem Kontext als Vorwand der westlichen Mächte gelten, um in Japan Fuß fassen zu können. Einem ähnlichen Argumentationsmuster folgten schon Denker im 19. Jh. wie Aizawa Seishisai. Martha MENZEL regte an, auch nach einer Veränderung in Shimajis Einstellungen zu seinem Lebensende hin suchen, da ab 1911 die Gefahr einer Christianisierung Japans gebannt war. Till KNAUDT fragte nach dem Verständnis der JS der Konzepte Staat und Religion, da für Shimaji Lehre und Politik zwar zusammen gehören sollten, die Gründung des Religionsministeriums 1872, das eine Trennung eben jener beiden Bereiche durchsetzte, jedoch durch ihn mitgetragen wurde. Hans Martin KRÄMER interessierte sich für den Unterschied der Rezeption der katholischen und protestantischen Kirche bei Shimaji, woraufhin BANSE antwortete, dass Shimaji die protestantischen Strömungen tendenziell befürwortete, die katholischen jedoch kritisierte (rituell, abergläubisch usw.). YAMAGUCHI Teruomi, der selbst gerade an einer Biographie Shimajis arbeitet, merkte an, dass Shimaji in vergleichsweise geringem Maße Gessho rezipiert habe und die Kritik immer in ihrer Funktion, nämlich der Aufwertung der eigenen Lehre, gesehen werden müsse. Zudem habe Shimaji 1872 in Deutschland gelebt, was ihm den Ruf eines „Christenkenners“ einbrachte und bei einer Einordnung der Bedeutung seiner Person berücksichtigt werden müsse.
MORIKAWA Takemitsu (Luzern) behandelt in seinem Vortrag „Ren’ai / Irokoi. Entdifferenzierung der Liebessemantik und verstärkte Stratifizierung der Gesellschaft in der Meiji- und Taishô-Zeit“ das Begriffspaar iro-koi und ren’ai, dessen Entsprechung in der Stratifizierung der Gesellschaft der Meiji- und Taishô-Zeit anzufinden sei. Er beruft sich dabei auf die Liebesdefinition nach Niklas Luhmann, der Liebe als Medium neben Macht und Geld sieht, das für bestimmte Kommunikationsprozesse in der Gesellschaft vorgesehen und nur in bestimmten Bereichen einsetzbar ist. Diese Medien dürfen nicht im falschen Umfeld angewandt werden, z.B. führe Geld in der Politik zu Korruption, Geld in der Beziehung zu Prostitution usw. Die Familienreformen der Meiji-Zeit, die unter dem Leitsatz bunmei kaika („Zivilisation und Aufklärung“) standen, wurden von Meiji-Intellektuellen wie Mori Arinori getragen, die das Ende der Edo-Zeit als Phase des moralischen Verfalls werteten. Andere wie Kitamura Tôkoku sprachen sich für die Vernunft und gegen die Lust aus und führten im Rahmen dessen als Negativbeispiel die iro-koi-Liebe der Edo-Zeit an. Der ren’ai-Boom der Meiji-Zeit, der sich laut MORIKAWA vor allem in der Literatur widerspiegelte (Passion hat keine Sprungkraft im Begriffsfeld der Zivilisation, keine Kraft, die Grenzen des segmentären Systems der Familie zu überwinden), zeigt dabei immer wieder das Gefälle von ren’ai zu iro-koi auf, wobei der Geist über dem Körper, das Denken über dem Fühlen steht und somit ren’ai als nicht universell praktizierbares Ideal produziert, das sich in der Stratifizierung der Gesellschaft widerspiegelt. Dies zeigt sich auch geografisch, wenn der Yamanote-Bezirk Tokyos mit ai, der Shitamachi-Bezirk mit iro identifizeirt wird.
Hans Martin KRÄMER fragte in der anschließenden Diskussion, was in 20 Jahren zwischen den Diskussionen um den Zivilisationsgedanken, der die Ausbreitung eines Passionsgedanken verhinderte (z.B. in der Meiroku zasshi) und den Romanen geschah. MORIKAWA antwortete, dass auch in den Romanen der bunmei-Begriff noch zentral, die Semantik von 20 Jahren zuvor also noch einflussreich war. Robert KRAMM merkte an, dass Liebe und Sex als Semantikpaar zu funktional gedacht sei, da Prostitution in der Moderne nicht illegitim war. Hier eine moralische Konstante zu konstatieren sehe er als problematisch an. Jan SCHMIDT regte dazu an, die Quellenbasis auszuweiten und auch Zeitungen mit in die Analyse einzubeziehen, woraufhin MORIKAWA auf die hohen Leserzahlen der Romane und somit auf ihre ausreichende Repräsentativität verwies.
3. Abschlussdiskussion:
Auf der Tagesordnung der Abschlusssitzung am Sonntag standen vor allem folgende drei Punkte:
1. Klärung ob der halbjährliche Turnus der Initiativetreffen fortgesetzt werden soll;
2. Frage nach der Transparenz in der Organisation der Initiativetreffen;
3. Soll sich die Initiative „professionalisieren“, d.h. stärker bestimmte Leitthemen in den Vordergrund stellen, oder bei der bisherigen lockeren Themenwahl bleiben?
Zu Beginn wurde nach der entsprechenden Frage festgestellt, dass die meisten Anwesenden den halbjährlichen Turnus gerne beibehalten wollen. Jan Schmidt eröffnete dann die Diskussion mit der Feststellung, dass wohl verschiedentlich von außen der Eindruck entstanden sei, dass sich in der Initiative ein „inner circle“ etabliert habe bzw. diese von einem solchen geleitet würde. Es sei dem gegenüber natürlich wichtig, die Organisation der Initiativetreffen so transparent und basisdemokratisch wie möglich zu gestalten. Dazu sollten die schon vorhandenen Infrastrukturen, wie z.B. die Homepage, noch stärker genutzt werden, als es in letzter Zeit der Fall war. Schmidt wies aber auch darauf hin, dass alleine ein Blick in die Liste der bisherigen OrganisatorInnen und der TeilnehmerInnen der vergangenen Treffen zeige, dass die Initiative nach der Gründung durch Thomas Büttner, Hans Martin Krämer, Tino Schölz, Maik Hendrik Sprotte und ihn selbst sehr schnell und kontinuierlich auf sehr vielen Schultern geruht habe und dass die Entscheidungen im Konsens der Teilnehmenden entstanden seien, eine Dominanz Einzelner also eher ein Problem der Wahrnehmung von außen sei. Kritiker waren und seien auch weiterhin immer willkommen, nur sollten diese dann im Gegenzug auch regelmäßig bzw. überhaupt an den Treffen teilnehmen und sich organisatorisch entsprechend einbringen, da die einzige Bedingung, die für eine Mitsprache stets von allen Beteiligten im Konsens akzeptiert wurde, die wiederholte Teilnehme und organisatorische Mitarbeit sei. Die Möglichkeit, sich inhaltlich einzubringen bestehe dabei über die Mailingliste der Initiative, „Initiative-Nihonshi“, zu der sich alle Interessierten jederzeit anmelden könnten, ohne dadurch irgendwelche Verpflichtungen einzugehen (derzeit 71 Abonnenten; die Liste ist lediglich moderiert, um Spam-Mails zu verhindern, alle anderen Beiträge werden zeitnah freigeschaltet). Weiter sei es wichtig, auch „Nicht-Japanologen“ in die Organisation der Initiative zu integrieren. Es sei beispielsweise schon vorgeschlagen worden, den Austragungsort in Museen zu verlegen beziehungsweise mit Museen stärker zu kooperieren. Zudem müsse immer wieder betont werden, dass die Initiative kein alleiniges Treffen von Japanologen sei, sondern sich prinzipiell an alle richte, die zu Facetten der japanischen Geschichte, in welcher Disziplin auch immer beheimatet, arbeiteten. Es wurde auch eine stärkere Betonung von „Themenblöcken“ vorgeschlagen. Zum Thema „Themenblock“ schlug Christiane Banse ein Mischsystem aus Theorie- und Vortragsblöcken vor. Dieses Mischsystem sei allerdings ohne eine stringente Organisationsdisziplin nicht möglich. Eher kritisch sah Marta Menzel die Festlegung auf bestimmte Themenblöcke, da so leicht ein Trend zu Themenkonstruktion entstehen könne. Robert Kramm-Masaoka schlug vor, eher ein System eines Werkstattberichts von Forschungsprojekten mit begleitender Textlektüre einzuführen. Jan Schmidt entgegnete, dass die vorbereitende Lektüre zu japanologischen Werkstattberichten zwar an sich eine gute Idee, aber wenig praktikabel sei. Hans Martin Krämer fasste die Methode der Organisation der ersten Initiativetreffen zusammen, wonach die Initiative wesentlich weniger ?konferenzlastig? gewesen sei, eine Zielsetzung, die, das zeigte die Zustimmung während der Diskussion, nach wie vor den Interessen der Mehrheit der TeilnehmerInnen zu entsprechen scheint. So habe es ursprünglich nur vier 90-Minutenblöcke gegeben, wovon ein Block bereits für die Inforrunde verbraucht worden sei. Einer dieser Blöcke sei für ein Inputreferat reserviert gewesen, das eine Diskussion habe anstoßen sollen, worauf drei weitere Vorträge gefolgt seien, für die man sich aber mehr Zeit habe nehmen könne. Lisa Hammke betonte die Notwendigkeit der Integration von B.A.-Studierenden in die Initiative, sowie die Möglichkeit des Austauschs der Studierenden untereinander. Jan Schmidt betonte den Willen, für das nächste Treffen einen eigenen, der Initiative vorgeschalteten „Youngster-Workshop“ zu organisieren, was bereits beim 19. Treffen in Tübingen Harald Fuess vorgeschlagen hatte. Kritische Argumente waren seitens einiger Studierender, dass man nicht in einen separaten Workshop wegkomplimentiert werden wolle. Außerdem, so Adrian Gärtner, sei das Spezialistenfeedback und die Vortragssituation eine gute Gelegenheit, um einmal in den ?echten? akademischen Betrieb reinzuschnuppern. Yamaguchi Teruomi betonte abschließend, dass ein erfolgreicher Austausch der Generationen nur durch die Integration von jungen Mitgliedern in die Initiative möglich sei. Die jungen Mitglieder könnten dann einmal das Erbe der jetzigen Initiative antreten. Die Anwesenden beschlossen hierauf, die Diskussion um das Profil der Initiative erst einmal in Ruhe fortzusetzen um einen möglichst basisdemokratischen Konsens erzeugen zu können.
(Protokoll: Christiane Banse, Anja Batram, Till Knaudt, Robert Kramm-Masaoka, Jan Schmidt)
21. Treffen an der Universität Hamburg am 1. und 2. Juni 2013
Anwesend waren in Hamburg: Antje Bieberstein (Hamburg), Ulrich Brandenburg (Zürich), Johannes Budkiewitz (Hamburg), Maximilian Josef Duchow (Hamburg), Ursula Flache (Berlin), Adrian Gärtner (Heidelberg), Eike Großmann (Hamburg), Charlotte Ickler (Hamburg), Kaori Itô (Bochum/Fukuoka), Ivo Ivanov (Bochum), Lennart Jacob (Hamburg), Anne-Sophie König (Hamburg), Robert Kramm-Masaoka (Zürich), Oliver E. Kühne (Tübingen), Simone Lechner (Hamburg), Florian Lüneburg (Hamburg), Yuko Maezawa (Bayreuth), Martha-Christine Menzel (Heidelberg), Berenice Möller (Hamburg), Takemitsu Morikawa (Luzern), Anke Scherer (Köln), Jan Schmidt (Bochum), Tino Schölz (Halle), Marcus Schöne (Hamburg), Stefanie Schwarte (Hamburg), Maik Hendrik Sprotte (Halle), Anja Strömer (Hamburg), Herbert Worm (Hamburg);
1. Interessen, Neuigkeiten und Projekte:
Ulrich Brandenburg (Zürich) promoviert zu „Träumen von einem islamischen Orient: Arabisch-japanische Sichtweisen vom Beginn des 20. Jahrhunderts und ihre Verwurzelung in westlichen Diskursen“ (siehe Vortrag unten). Die Interessenschwerpunkte von Johannes Budkiewitz (Hamburg) liegen im Bereich des demographischen Wandels, des Kulturtourismus und der Revitalisierung von Regionen. Maximilian Josef Duchow (Hamburg) beschäftigt sich mit Nordkoreanern in Japan. Ursula Flache (Berlin) wies in ihrer Funktion als Fachreferentin für Japan an der Staatsbibliothek Berlin erneut auf die vielfältigen Möglichkeiten der Nutzung ihrer Bibliothek (Internetportal www.crossasia.org, Fernleihe) hin. Sei auch die Digitalisierung der Zettelkataloge schon weit fortgeschritten, bestehe immer die Möglichkeit, eine Fernleihe über den „blauen Leihverkehr“ zu bestellen, da der Titel, wenn vielleicht auch (noch) nicht digital verzeichnet, vorhanden sein könnte. Eike Großmann (Hamburg) beschäftigt sich im Rahmen ihrer Forschungen zur vormodernen Literatur Japans mit der Konstruktion von Kindheit und Kindheitsvorstellungen. Kaori Itô (Bochum/Fukuoka) arbeitet im Bereich der Diplomatiegeschichte über die Interparlamentarische Union und die Rolle Deutschlands in dieser. Lennart Jacob (Hamburg) beschäftigt sich mit Maßnahmen zur mutmaßlichen Stärkung des Patriotismus in Schulen und Gegenbewegungen des Lehrpersonals. Robert Kramm-Masaoka (Zürich) untersucht als Globalhistoriker die Regulation von Prostitution im Japan unter der alliierten Besatzung. Die Interessen von Florian Lüneburg (Hamburg) liegen im Bereich der Binnengärten (tsuboniwa) und ihrer Symbolik. Yuko Maezawa (Bayreuth) hat mit einer Arbeit zu „Mikronesien im Ersten Weltkrieg (1914–1918). Kulturkontakte und Kulturkonfrontation zwischen Mikronesiern, Japanern und Deutschen“ (siehe Vortrag unten) an der dortigen Universität promoviert. Martha-Christine Menzel (Heidelberg) untersucht die „Entdeckung Hokkaidôs als Ort der japanischen Literatur“. Takemitsu Morikawa (Luzern) wies auf die Drucklegung seiner Habilitationsschrift hin, die 2013 unter dem Titel „Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik. Der interkulturelle Vermittler Mori Ôgai und die Reorganisation des japanischen „Selbstbildes“ in der Weltgesellschaft um 1900“ im transcript Verlag (Bielefeld) erschienen ist. Anke Scherer (Köln) untersucht die kulturelle Kategorie der Sauberkeit (siehe Kurzvortrag unten „Abschließendes“). Jan Schmidt (Bochum) hat seine Promotionsverfahren mit einer Dissertation zu „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg — Der Erste Weltkrieg in Japan: Medialisierte Kriegserfahrung, Nachkriegsinterdiskurs und Politik, 1914–1918/19“ an der dortigen Universität abgeschlossen, hält sich ab August für 6 Monate als Gastwissenschaftler an der Kyôto-Universität auf und plant gemeinsam mit Katja Schmidtpott für Ende 2014 in Bochum oder Berlin eine Konferenz zu Japan und Deutschland im 1. Weltkrieg. Tino Schölz (Halle) hat seine Forschungen zu „Die Gefallenen besänftigen und ihre Taten rühmen. Gefallenenkult und politische Verfasstheit in Japan seit der Mitte des 19. Jahrhunderts“ ebenfalls erfolgreich beendet. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Militärgeschichte und der Bürgergesellschaft von der bakumatsu-Zeit bis in die Gegenwart. Marcus Schöne (Hamburg) beschäftigt sich mit Sakaguchi Ango (siehe Vortrag unten), der buddhistischen Dialektik und zeitgenössischen Diskursen, vornehmlich in literarischen Texten der Shôwa-Zeit. Maik Hendrik Sprotte (Halle) machte auf die Publikation seines Arbeitspapieres „Zivilgesellschaft als staatliche Veranstaltung? Eine Spurensuche im Japan vor 1945“ (2012) aufmerksam, die unter www.sprotte.name/zivilgesellschaft zum Download im PDF-Format zur Verfügung steht. Eine Übersetzung in die japanische Sprache sei in Vorbereitung. Andere Arbeitspapiere des Internationalen Graduiertenkollegs „Formenwandel der Bürgergesellschaft. Japan und Deutschland im Vergleich“ an der Universität Halle-Wittenberg, von denen sich gleichermaßen einige mit Fragstellungen aus der japanischen Geschichte befassen, werden unter http://www.igk-buergergesellschaft.uni-halle.de/publikationen/arbeitspapiere/ zum Download angeboten; Anja Strömer (Hamburg) untersucht die Attraktivität des japanischen Marktes und beschäftigt sich darüber hinaus mit Unternehmensfusionen und Firmenübernahmen;
2. Vorträge:
Marcus Schöne (Hamburg): Analyse des Begriffes kenkô in Sakaguchi Angos Nihon bunka shikan, 1942
Nach einer allgemeinen Einführung zu Leben und Werk Sakaguchi Angos (1906–55) und seiner Verortung innerhalb der literarischen Szene untersuchte Schöne anhand eines der Hauptwerke Angos, der „Persönlichen Sicht auf die japanische Kultur“, die Begriffe „Alltagsleben“ (seikatsu 生活) und „gesund“ (kenkô 健康). Er tat dies im Kontext der Haltung Sakaguchis zum Umgang mit der Moderne und dessen Sicht auf die nationale bzw. kulturelle Identität Japans. Als Teil einer „latent faschistoiden Gegenkultur“, das zeige eine Untersuchung entsprechender Diskurse, verweise der Terminus kenkô bei Ango auf ein Ideal, das nicht rückwärtsgewandt, im Gegensatz zur Moderne, bestehe, wohl aber im Kontext der buddhistischen Sicht auf Endlichkeit und Erneuerung der Existenz zu verstehen sei und auf „einem Leben, das auf den Bedürfnissen des Alltags“ basiere.
Neben der Frage einer möglichen Kategorisierung Angos schlicht als „Nationalist“ wurde die Diskussion von den Gesichtspunkten der Ursprünge, Grundlage und Vorbildern von Angos Gesundheitsbegriff geprägt, weise dieser doch in der Konzeptbildung durchaus auch auf einen globaleren Kontext im Rahmen des Kolonialismus.
Yuko Maezawa (Bayreuth): Mikronesien im Ersten Weltkrieg. Kulturkontakte und Kulturkonfrontationen zwischen Japanern, Deutschen und Mikronesiern
Ohne Widerstand der Deutschen und der Insulaner besetzte Japan im Verlauf des Ersten Weltkriegs die Marshallinseln, Karolinen und Marianen und erhielt 1919 die Inseln als Mandatsgebiet des Völkerbundes. Somit stieg Japan zu einer regionalen Kolonialmacht auf. Maezawa konstatierte, daß für die japanische Kolonialherrschaft eher der Gesichtspunkt der Gleichrassigkeit von Japanern und Inselbewohnern, im Sinne von Ähnlichkeit, aber nicht gleicher Abstammung, das kolonialadministrative Handeln bestimmte. Versuchte man auch höhergestellten Mikronesiern durch Reisen in das japanische Mutterland die Kultur und den Einfluß Japans näher zu bringen, blieben die Inselvölker eher früheren Kolonisatoren zugeneigt. Aufgrund der christlichen Missionen hatte die Shintô-Mission keinen Erfolg.
Gesichtspunkte der Diskussion fokussierten sich auf die Kodierung des „Fremden“ durch die deutschen und japanischen Kolonialherren, auf einen Vergleich der Assimilierungspolitik der verschiedenen Kolonisatoren, wie sie sich z.B. in der Schulbildung (Sprachwahl, Trennung von Schul- und Religionserziehung etc.) ausdrückte, und auf die Frage, ob nicht alleine schon der Gebrauch der geographischen Beschreibung „Mikronesien“ ein Fortschreiben des Kolonialismus bedeute.
Maik Hendrik Sprotte (Halle): „Alte großasiatische Träume leben unter der Oberfläche weiter.“ — Egon Bahr und eine mögliche japanische Atombewaffnung 1969
Im Zentrum dieses Vortrags stand die historische Einordnung und gegenwartsbezogene Analyse der innenpolitischen Instrumentalisierung einer streng geheimem „Aufzeichnung“, die 1969 vom damaligen Leiter des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes, Egon Bahr (SPD), nach den ersten Konsultationen der Planungsstäbe der Außenämter Japans und der Bundesrepublik verfasst worden war. In diesem Dokument unterstellte Bahr der japanischen Seite die Absicht, eine eigenständige Atombewaffnung anzustreben, um den Status einer Supermacht zu erlangen. Sprotte verortete diese möglichen japanischen Bemühungen im Kontext der Entstehungsphase der „Drei nicht-nuklearen Prinzipien“, der kontrovers geführten Diskussion über den Beitritt Japans zum „Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen“ und des dauerhaft schwierigen Verhältnisses Japans zum US-amerikanischen Bündnispartner in Verteidigungsfragen vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Lage in Ostasien. Er bewertete die möglichen Überlegungen zu japanischen Atomwaffen am Ende der 1960er Jahre als weiteren Beleg eines seit Jahrzehnten von der japanischen Regierung betriebenen „nuclear hedging“.
Die Diskussion konzentrierte sich auf Fragestellungen hinsichtlich der Rolle und Funktion des japanischen Außenministeriums bzw. unterschiedlicher Interessengruppen innerhalb dieser Organisationseinheit im Zusammenhang mit der politischen Gestaltung einer sich verändernden japanischen Sicherheitskonzeption.
Ulrich Brandenburg (Zürich): Säkularismus als Sonderfall: Japan und die Religion 1904–1912
Wurde der Anstoß zu einer Debatte über eine japanische Konversion zum Islam, also dessen Erhebung zur Staatsreligion, im Untersuchungszeitraum muslimischen Kreisen zugeschrieben, war sie durchaus auch ein durch Europäer diskutiertes Thema. Generell war die Diskussion einer Konversion ein wiederkehrendes Motiv, sah man doch die internationale Stellung Japans durch den Gegensatz der japanischen Kombination von Säkularismus und Kaiserkult mit dem international vorherrschenden Christentum berührt. Mithin war Japan Teil und Objekt einer internationalen Debatte über Religion. Ursachen lagen, so Brandenburg, vor allem in einem Bedürfnis nach einer größeren Sichtbarkeit von Religionen. Die in der Hoffnung auf eine Christianisierung Japans häufig vorgebrachte Erkenntnis eines „Mangels an Moral“ wurde auch japanischen Intellektuellen bewußt.
Gleichwohl machten Vortrag und die sich anschließende Diskussion deutlich, daß durch die Funktionszuweisung für die Religion als Korrektiv der Folgen des Industrialisierungsprozesses und als Integrationsbasis der Nation weit weniger Fragen des Glaubens als eine mögliche Instrumentalisierung der Religion die Erörterungen beherrschte.
Oliver Kühne (Tübingen): Der Zweite Weltkrieg in der fiktionalen Gegenwartsliteratur Japans und Okinawas — Zwischen historischer Amnesie und repetitiver Traumaverarbeitung?
In postkolonialer Lesart näherte sich Kühne der Rolle des Zweiten Weltkriegs in der Okinawa-Literatur. In der klassischen Widerstandsliteratur Okinawas widme man sich den in der Schlacht von Okinawa verursachten Traumata, den Jahren nach dem Krieg und der Besatzungsproblematik, wobei in Abweichung zur bisher geltenden Sichtweise keinesfalls die persönliche Kriegserfahrung des Autors eine Vorbedingung sei, sondern durchaus die imaginierte Aufarbeitung ein Werk als Teil der Widerstandsliteratur qualifiziere. In seinem Vortrag stellte Kühne exemplarisch zwei Werke — Okuizumi Hikarus „Ishi no raireki“ und Medoruma Shuns „Mabui-gumi“ nebeneinander. Beiden Werken seien ein auktorialer Erzähler, eine traumatische Vergangenheit der Protagonisten und die Unfähigkeit der Protagonisten, die Vergangenheit zu überwinden, gemein. Vor allem kennzeichne die Werke ein subversiver, magisch-realer Erzählmodus, der die unterdrückten und unausgesprochenen Erinnerungen der japanischen Gesellschaft herausfordere.
Im Vortrag wie in der Diskussion zeigte sich, daß die Okinawa-Literatur ungeachtet ihrer Kanonisierung als regionales Literaturphänomen kaum Gegenstand der Forschung sei. Der Begriff des „Traumas“ als psychoanalytische Kategorie führte zu der Frage, ob angesichts der großen zeitlichen Distanz zu den Ereignissen des Krieges dieser Begriff generell nutzbar sei.
3. Abschließendes:
Anke Scherer (Köln) nutzte diese Runde, um in einem Kurzvortrag ihr Projekt „Cleanliness is next to godliness: The culture of cleaning in Japan“ vorzustellen, in dem sie die Aktivitäten einer NPO namens „Nihon o utsukushiku suru kai“ und deren Reinigungsaktivitäten im öffentlichen Raum untersucht und das in einer sozialanthropologischen Studie über die kulturellen Konzepte von Sauberkeit und Ordnung in Japan im öffentlichen und privaten Raum, in Schulen, Firmen, Familien und in der öffentlichen Diskussion aufgehen soll. Sie nutzte dazu die auf Prägnanz ausgerichtete Präsentationsform Pechakucha (ぺちゃくちゃ, 20 Bilder einer Präsentation mit jeweils 20 Sekunden Präsentationszeit, Vortragszeit somit: 6 Min. 40 Sek.) und das sie erfolgreich an der Cologne Business School einsetzt.
Hinsichtlich des Studierendenworkshops, der parallel zur Tagung der Initiative stattfand, bestand nach einem kurzen Bericht der Teilnehmerinnen und Teilnehmer Einigkeit darüber, daß es sich um ein Vorhaben handele, das auch auf späteren Tagungen der Initiative weiterverfolgt werden sollte.
Die Tagung endete mit einem herzlichen Dank an die Organisatorinnen dieses Treffens, Eike Großmann und Martha-Christine Menzel, für ihren Einsatz und an die Abteilung für Sprache und Kultur Japans im Afrika-Asien-Zentrum der Universität Hamburg für die finanzielle Unterstützung der Tagung.
(Protokoll: Maik Hendrik Sprotte)
22. Treffen an der Universität Tübingen am 2. und 3. November 2013
Anwesend waren in Tübingen: Klaus Antoni (Tübingen), Katrin Endres (Heidelberg), Adrian Gärtner (Heidelberg), Benjamin Hoffmann (Tübingen), Julia Mariko Jacoby (Freiburg), Constantin Künzl (Heidelberg), Robert Kramm-Masaoka (Zürich), Wolfgang Lehnert (Esslingen), Martha-Christine Menzel (Heidelberg), Philippe Möller (Tübingen), Jonas Rüegg (Zürich), Hans-Joachim Schmidt (Heusweiler-Kutzhof), Tobias Scholl (Tübingen), Wolfgang Seifert (Heidelberg), Maik Hendrik Sprotte (Halle), Takata Azusa (Tôkyô), David Weiß (Tübingen).;
1. Interessen, Neuigkeiten und Projekte:
Klaus Antoni (Tübingen) betreibt historische und kulturwissenschaftliche Forschungen zu japanischer Religion. Katrin Endres (Heidelberg) betreibt Forschungen zum japanischen Tänzer Kuni Masami und zum japanischen zeitgenössischen Tanz. Adrian Gärtner (Heidelberg) studiert Japanologie mit Nebenfach Geschichte. Benjamin Hoffmann (Tübingen) studiert Japanologie. Julia-Mariko Jacoby (Freiburg) hat Geschichte und Latein studiert und betreibt historische Katastrophenforschung sowie Forschungen zur Mediengeschichte. Constantin Künzl (Heidelberg) schrieb seine Magisterarbeit über den japanischen Ethnologen Yanagita Kunio. Robert Kramm-Masaoka (Zürich) schreibt seine Dissertation zur Regulation von Prostitution und Hygiene im Japan unter der alliierten Besatzung. Wolfgang Lehnert (Architekt aus Esslingen) hat seine Dissertation „Die Wände der bürgerlichen Wochenarchitektur im Wandel der japanischen Edo-Zeit“ an der Universität Stuttgart veröffentlicht. Seine Forschungen befassen sich mit Veränderungen und Modernität, die sich seit dem 17. Jahrhundert in der japanischen Architektur vollzogen hat. Martha-Christine Menzel (Heidelberg) untersucht die „Entdeckung Hokkaidôs als Ort der japanischen Literatur“. Philippe Möller (Tübingen) studiert Anglistik und Japanologie. Jonas Rüegg (Zürich) betreibt historische Forschungen zu Japan. Hans-Joachim Schmidt (ehem. Referatsleiter im Kultusministerium des Saarlands) untersucht deutsche Kriegsgefangenenlager in Japan im Ersten Weltkrieg. Unter http://www.tsingtau.info präsentiert er seine Ergebnisse. Tobias Scholl (Tübingen) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Koreanistik. Er verfasst seine Dissertation über den Diskurs über die gemeinsamen Ursprünge von Japanern und Koreanern während der Zeit der japanischen Annexion Koreas. Wolfgang Seifert promovierte mit einer Dissertation zum Nachkriegsnationalismus in Japan, die 1977 als Buch in der Reihe „Mitteilungen des Instituts für Asienkunde, Hamburg) erschien. Er publizierte außerdem 1997 seine Habilitationsschrift zum Thema „Gewerkschaften in der japanischen Politik von 1970 bis 1990. Der dritte Partner?“ im Westdeutschen Verlag, einem sozialwissenschaftlichen Verlag (heute: VS-Verlag). Maik Hendrik Sprotte (Halle) ist weiterhin mit seiner Forschung zu den Nachbarschaftsguppen (tonarigumi 隣組) nach 1940 beschäftigt. Sprotte wies auf die Möglichkeit der Verlinkung von Projektskizzen über die Internetpräsenz der Initiative unter http://www.japanische-geschichte.de (Mail mit Titel und Link an maik@sprotte.name) und auf die „Bibliographie zur historischen Japanforschung“ hin, für die weiterhin gerne Meldungen deutschsprachiger Publikationen entgegengenommen werden. David Weiß (Tübingen) forscht zu den koreanischen Einflüssen auf die japanische Mythologie.
2. Vorträge:
Wolfgang Seifert (Heidelberg): „Wissenschaftliches Publizieren im Bereich der Geschichte Ostasiens, insbesondere Japans“
Der Referent behandelte in seinem Vortrag drei Fragen, die im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Publikationen im Bereich der Geschichte Ostasiens und Japans von Bedeutung sind: 1. Welche Arbeiten können wo und in welcher Form veröffentlicht werden? 2. Wie können Doktorarbeiten veröffentlicht werden? 3. Wen möchte man mit seiner Veröffentlichung erreichen?
Zur Beantwortung der ersten Frage gab Seifert einen Überblick über die Möglichkeiten der Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten in hauseigenen Reihen wissenschaftlicher Verlage und Gesellschaften.
— Beispiele für BA- und Masterarbeiten: die Reihe mit BA- und Master-Arbeiten in der Münchner Japanologie; dies ist eine hauseigene Reihe, die Veröffentlichung erfolgt in elektronischer Form.
— Für Dissertationen: (1) Dissertationsverlage, z.B. Tectum; (2) geschichts- oder ostasienwissenschaftliche Reihen bestimmter Verlage (Beispiele: a) Reihe „Monographien des DIJ Tokyo“ im Iudicium Verlag; b) Reihe Monographien c) einzelne Dissertationen auch im Oldenburg-Verlag oder im Franz-Steiner-Verlag.
— Für Habilitationsschriften, z.B. eine spezielle Reihe „Studien zur Geschichte des Völkerrechts“ (Nomos-Verlag), in der gerade U.M. Zachmanns „Völkerrechtsdenken und Außenpolitik in Japan, 1919–1960“ erschienen ist.
Anschließend gab er einen Überblick über die Kosten einer Publikation und über Möglichkeiten zur Finanzierung von Dissertationen (Druckkostenzuschuss) am Beispiel der demnächst beginnenden Reihe „Japan in Ostasien“ im Nomos-Verlag. Zuletzt widmete er sich der dritten Frage, nämlich, welche Öffentlichkeit man mit Hilfe der Publikation der Dissertation erreichen möchte: die wissenschaftliche (Fach-)Öffentlichkeit, begrenzt, entsprechend dem Thema; oder eine breitere interessierte Öffentlichkeit. Von der Antwort hierauf hängen die Wahl des Verlages und Form sowie Stil der Veröffentlichung ab.
In der anschließenden Diskussion brachten die Anwesenden eigene Erfahrungen zur Sprache und erörterten gemeinsam Schwierigkeiten und Möglichkeiten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten.
Wolfgang Lehnert (Esslingen): „Japanische Räume im Wandel der Edo-Zeit“
Wolfgang Lehnert thematisierte in seinem Vortrag die Wohnräume japanischer Wohnhäuser (minka 民家) der Edo-Zeit und den Wandel, dem sie im Laufe der Zeit unterworfen waren. Der minka-Baustil entwickelte sich ab dem 11. und 12. Jahrhundert und erhielt während der Genroku-Zeit (1688–1704) wesentliche Veränderungen. Ursprünglich bestanden einfache japanische Häuser aus einem einzigen Raum ohne Unterteilungen, in dem auch alle Familienmitglieder schliefen. Mit der Unterteilung des Hauses in Schlaf- und Wohnbereiche entstanden Räume mit speziellen Funktionen. Der Schlafraum (nando 納戸oder nakanoma 中の間) hatte zunächst feste Wände und diente als Zuflucht bei Plünderungen Gleichzeitig war er ein Lagerraum für Wertvolles. Wenn Reisende nach Übernachtungsmöglichkeiten suchten, wurde ihnen dieser Raum zur Verfügung gestellt. Lehnert gab im Folgenden eine Übersicht über den Wandel der Lage, des Aufbaus, der Nutzung und Benennung der Schlafräume in Land- und Stadthäusern aus verschiedenen Regionen während der letzten feudalen Epoche Japans.
Im Anschluss an diesen Vortrag stellten die Anwesenden Fragen zum innerjapanischen Vergleich der Baustile, zum Vergleich von chinesischen und japanischen Bauweisen und einigen Kernbegriffen des Vortrags.
Jonas Rüegg (Zürich) : „Aimé Humbert – Wertevorstellungen eines Bourgeois und das Japan der Bakumatsu-Zeit. Eine Untersuchung anhand privater Korrespondenzen während seines Aufenthaltes 1863–64“
Jonas Rüegg behandelte in seinem Vortrag die Ziele und Wertvorstellungen von Aimé Humbert, der 1863–64 in Japan war, um einen Handelsvertrag zwischen Japan und der Schweiz auszuhandeln und abzuschließen. Er sah sich als Vertreter einer kleinen Binnennation ohne Möglichkeit, militärischen oder politischen Druck auf Japan auszuüben, und bediente sich der niederländischen Kontakte vor Ort. Seine Bewunderung der japanischen Kunst und sein Selbstbild als Freund des japanischen Volkes führten dazu, dass Humberts Einstellung und Motive gegenüber Japan in späteren Jahren positiv gewertet wurden.
Rüegg wertete die Korrespondenz Humberts aus und nahm eine Diskursanalyse auf der Grundlage von Edward Saids Orientalismus-Begriff vor. Humbert veröffentlichte 1870 den illustrierten Bildband „Le Japon Illustré“, der ein durchaus positives Japanbild repräsentierte, zuweilen aber auch Kritik an der Gesellschaft Nippons übte. Humbert hegte, wenngleich er sich lobend über Kunst und Kultur Japans äußerte, ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber Japan. Er vermisste eine christliche Moral und kritisierte den Buddhismus als Hindernis auf dem Weg des Fortschritts. Er übertrug politische und soziale Entwicklungen Europas und der Schweiz auf Japan und hielt die Übernahme von westlicher Religion, Kultur und Bildung für eine Voraussetzung für die Entwicklung Japans, das ohne Hilfe von den Industrienationen zur Stagnation verurteilt sei.
Im Anschluss an Rüeggs Vortrag wurden verschiedene Diskussionspunkte erörtert, so zum Beispiel die Frage nach Humberts Schulung im Vorfeld seiner Japanreise, den Begriff der Bourgeoisie und seine Bedeutung im Zusammenhang mit Humberts Beobachtungen und Sichtweisen sowie Edward Saids Orientalismusbegriff und seine Einbindung in die Forschungen zu Aimé Humbert.
Hans-Joachim Schmidt (Heusweiler-Kutzhof): „Die Gefangenschaft der „Tsingtauer“ in Japan 1914–1920“
Anlass für Hans-Joachim Schmidts Forschung zu den deutschen Kriegsgefangenen in Japan im Ersten Weltkrieg war ein Dachbodenfund von Dokumenten von Andreas Mailänder, der 1914 als Soldat in China war. Dem folgten intensive Recherchen nach 4700 weiteren Personen, die in Japan in Kriegsgefangenschaft waren, die Eröffnung eines Internetportals und eine Reise nach Japan.
Schmidt gab einen Überblick über die weltpolitische Lage vor dem Ersten Weltkrieg und über die politischen Motive jener Zeit in Japan und dem Deutschen Reich. Er beschrieb die Kämpfe zwischen Japanern und Deutschen wie auch deren Verarbeitung der Ereignisse in Japan und Deutschland. Dem folgte ein Überblick über Unterbringung und Versorgung der Kriegsgefangenen in Japan. Schmidt sprach Probleme an, die in der Literatur kaum oder gar nicht behandelt werden, wie Gewalt, die Enge der Unterbringung, Alkoholismus, Sexualität und Spannungen zwischen Offizieren und Mannschaften an und äußerte sich zur Verarbeitung der Ereignisse in den folgenden Jahrzehnten. Die Gefangenschaft der deutschen Soldaten in Japan spielte vor und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten keine Rolle in den deutsch-japanischen Beziehungen. Bis in die 1960er Jahre wurde sie kaum aufgearbeitet. Heute hingegen wird diese Zeit in vielen Fällen verklärt dargestellt und die relativ milde Behandlung der Deutschen in den Kontext einer kontinuierlichen deutsch-japanischen Freundschaft gestellt.
Im Anschluss an Schmidts Vortrag erörterten die Anwesenden in gemeinsamer Diskussion verschiedene Punkte wie die sozialpsychologischen Ansätze, mit denen die Aufarbeitung der Ereignisse erklärt werden kann, oder die Rolle von Erinnerungsorten wie dem Lager von Bandô und der sehr einseitigen Darstellung der Realität des Kriegsgefangenendaseins.
Julia Mariko Jacoby (Freiburg): „Die Katastrophe als Medienereignis. Die japanischen „Katastrophenpublikationen“ im gesellschaftlichen Umbruch 1855–1923“
Julia-Mariko Jacoby teilte ihren Vortag in zwei Teile auf. Im ersten Teil stellte sie das Genre der „Katastrophenpublikationen“ und die Ergebnisse ihrer MA-Arbeit vor. Im zweiten Teil behandelte sie weiterführende Fragestellungen. Katastrophen werden in Jacobys Arbeit vor allem als gesellschaftliche Konstrukte aufgefasst, an denen Medien einen großen Anteil haben. Für die Wahrnehmung eines Naturereignisses als Katastrophe sind Auswirkungen auf eine menschliche Gesellschaft und das Wissen über sie Voraussetzung. Das Fassen des katastrophalen Ereignisses in Bildern, Erzählungen und Statistiken, z.B. in Form einer Zeitschrift, bietet eine Möglichkeit, die chaotischen Zustände während einer Katastrophe beherrschbar zu machen und so kollektiv zu verarbeiten. Die Katastrophenpublikationen erscheinen einen bis mehrere Monate nach dem Ereignis und erheben Anspruch auf eine Berichterstattung über die Gesamtheit der Katastrophe. Sie beinhalten Bilder, Statistiken und Opferzahlen sowie Berichte über Einzelschicksale und Schauplätze. Sie besitzen zudem eine lange Kontinuität, die sich bis zu dem Kanazôshi „Kanameishi“ von 1663 zurückverfolgen lässt. Heute findet man sie vor allem in Form von Hochglanz-Fotomagazinen.
Jacoby stellte im Folgenden Publikationen zu verschiedenen Katastrophen vor, so zum Beispiel das Ansei Kenmonshi von 1855 von Kanagaki Robun, welches die Auswirkungen des Ansei-Erdbebens jenes Jahres beschrieb, oder das Taishô Daishinsai Daikaisai, das 1923 anlässlich des Kantô-Erdbebens erschien. Durch das Aufkommen neuer Publikationsformen im Lauf der Meiji-Zeit änderte sich die Form der Katastrophenberichte, ihre Funktion blieb allerdings dieselbe. Auch die Darstellungsmotive, sowie das Anführen von Einzelschicksalen in Form von Episoden und Anekdoten blieben weitestgehend gleich.. Es bildeten sich allerdings diverse Gattungen der Erzählung, wie Heldengeschichten (bidan 美談) oder tragische Geschichten (aiwa 哀話), die es in dieser klar definierten Form in der Edo-Zeit noch nicht gegeben hatte. Doch sie dienen noch heute als Möglichkeit für Betroffene, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und zur Erweckung eines Gefühls des. Katastrophenpublikationen prägen auch nachhaltig die historische Wahrnehmung der jeweiligen Ereignisse, da sie von vielen Lesern als Erinnerungsstücke archiviert werden.
Im Anschluss an den Vortrag lieferten die Anwesenden viele Fragen und Anregungen, vor allem zur Methodik einer wissenschaftlichen Erarbeitung des Genres der Katastrophenpublikationen aus medienwissenschaftlicher, diskursanalytischer, historischer und kunsthistorischer Sicht.
Katrin Endres (Heidelberg): „Der Tänzer Kuni Masami (1908–2007) – die Berliner Jahre (1936–1945). Ein Japaner als Zeitzeuge des NS-Regimes und seine Rolle innerhalb der deutsch-japanischen Kulturbeziehungen.“
Katrin Endres beschrieb in ihrem Vortrag den Aufenthalt des japanischen Tänzers Kuni Masami in Berlin von 1936 bis 1945 und seine Erfahrungen vor dem Hintergrund des Krieges und des NS-Regimes. Kuni Masami kam nach Deutschland, um Kontakt zu Vertretern progressiver Strömungen in Kunst und Kultur zu suchen und den japanischen Tanz zu erneuern. Er hatte viele deutsche Bekannte, unter ihnen auch viele Gegner des NS-Regimes, die ihm die Möglichkeit gaben, sich auf ihren Treffen von der politischen und gesellschaftlichen Realität jener Zeit zu distanzieren. Kuni war als Tänzer in die NS-Kulturpropaganda eingebunden, er gab jedoch an, zunächst nichts vom Rassenhass und den Kriegsvorbereitungen Deutschlands gewusst zu haben. Selbst der Krieg war für ihn anfangs ein Problem anderer Leute. Die Luftangriffe auf Berlin bestärkten ihn in seiner Verbundenheit zu der Stadt, Konzerte und Kulturveranstaltungen waren für ihn in dieser Zeit Ablenkungen von den physischen und psychischen Belastungen des Alltags. Kuni verließ Berlin im Februar 1945, wurde von der Roten Armee aufgegriffen und nach Japan repatriiert.
Die Diskussion zu Frau Endres‘ Vortrag behandelte vor allem Kuni Masamis angebliche Unwissenheit gegenüber Verfolgung und Rassismus in NS-Deutschland, sowie über Möglichkeiten zur Erschließung von Quellen, die Licht auf Kunis Rolle während der NS-Zeit werfen könnten.
3. Abschließendes:
Martha-Christine Menzel (Heidelberg) machte auf das Treffen des Arbeitskreises für vormoderne Literatur aufmerksam, das vom 27. bis 29. Juni 2014 in Göttingen stattfinden wird. Das Thema wird „Literatur und Ritual“ sein.
Klaus Antoni (Tübingen) informierte über das kommende Treffen des Arbeitskreises „Japanische Religionen“, das vom 08. bis 10. Mai 2014 in Tübingen stattfinden wird. Der Arbeitskreis wird in dem Jahr sein zwanzigjähriges Bestehen feiern; aus diesem Anlass ist eine Publikation geplant.
Im Anschluss wurde über Sinn und Möglichkeiten eines studentischen Workshops im Rahmen der Treffen der Initiative diskutiert, sowie über die Schwierigkeiten, Studierende für eine solche Veranstaltung zu motivieren.
Wolfgang Seifert (Heidelberg) und Klaus Antoni (Tübingen) sprachen über das Verhältnis von Ostasienwissenschaften und Geschichtswissenschaften. Um eine größere wissenschaftliche Sichtbarkeit herstellen zu können, muss man japanologische Schriften beispielsweise in geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlichen oder Mitglied in geschichtswissenschaftlichen Forschungskreisen werden.
Die Tagung endete mit einem herzlichen Dank an die Organisatorin dieses Treffens, Martha-Christine Menzel, an die Vertreter der Fachschaft der Japanologie Tübingen für ihren Einsatz und an Klaus Antoni für die Gastfreundschaft bei der Abteilung für Japanologie am Asien-Orient-Institut der Universität Tübingen.
(Protokoll: Constantin Künzl)
23. Treffen an der Universität Halle-Wittenberg am 24. und 25. Mai 2014
Anwesend waren in Halle: Oleg Benesch (York), Lilli Buschmin (Bochum), Aline Dreher (Bochum), Christian Droszdiok (Halle), Farina Fabricius (Bochum), Adrian Gärtner (Heidelberg), Aileen Gerloff (Berlin), Maj Hartmann (Bochum), Frank Käser (Berlin), Karsten Kenklies (Jena), Till Knaudt (Heidelberg), Matthias Koch (Halle), Hiromi Kora (Jena), Constantin Künzl (Heidelberg), Daria Kupis (Bochum), Martha-Christine Menzel (Berlin), Christoph Mittmann (Zürich), Moritz Munderloh (Hamburg), Julian Plenefisch (Berlin), Vanessa Schaar (Bochum), Anke Scherer (Köln), Juliane Schlag (Halle), Daniel Schley (München), Fabian Schmidt (Bochum), Jan Schmidt (Bochum), Tino Schölz (Halle), Mandy Schumann (Halle), Wolfgang Seifert (Heidelberg), Maik Hendrik Sprotte (Halle), Julia Streubel (Halle), Melina Wache (Bochum), Daniel Wollnik (Bochum), Rita Zobel (Berlin).
Vorträge:
Daniel Schley (München): Vorstellungen sakraler Herrschaft im mittelalterlichen Japan
In seinem Vortrag stellte Daniel Schley die Ergebnisse seiner kürzlich in Buchform im LIT Verlag erschienen Dissertation „Herrschaftssakralität im mittelalterlichen Japan“ vor. Darin untersuchte er die politisch-religiöse Vorstellungswelt des mittelalterlichen Japan. In seinem Vortrag thematisierte er zuerst den Zusammenhang von Politik und Religion bzw. die Benutzung religiöser Symbole zur politischen Machtdemonstration anhand von Beispielen sowohl aus dem japanischen als auch aus dem europäischen Mittelalter.
Gegenwärtig gilt der japanische Kaiser als Symbol des Staates und der Einheit des japanischen Volkes, was auf die Trennung von (öffentlicher) Politik und (privater) Religion hinweist. Der Tennô agiert zwar als höchster Priester des Shintô, tue dies aber in privater Funktion. Publikationen wie die Manga von Kobayashi Yoshinori oder populärwissenschaftliche Diskussionen japanischer Mediävisten über die Funktionen des Tennô belegen ein aktuell großes Interesse an der Thematik in der Gesellschaft.
Daniel Schley wies allerdings darauf hin, dass in dieser Diskussion die Funktion des Tennô im japanischen Mittelalter auch von der japanischen Forschung häufig zu eindimensional dargestellt wird. Hier ist der Konsens, dass die Institution des Tennô in Japan andauern konnte, weil sich eine Trennung der Herrschaft in Autorität (Tennô) und Regentschaft für den Tennô herausbildete, bei der der Monarch zur ideellen Legitimation wechselnder Machthaber (Hofadel, Krieger) diente. Allerdings war die tatsächliche Ausprägung von Herrschaft im japanischen Mittelalter im Spannungsverhältnis von göttlicher Unterstützung und politischer Forderung erheblich vielschichtiger.
So wurde politische Macht im 13. Jahrhundert in Japan nicht nur über die mythologisch fundierten und bürokratisch ausgebauten Herrschaftsstrukturen mit dem Hof und seinen Monarchen im Zentrum definiert. Daneben gab es alternative Ansätze, mit denen selbst lokale Verwalter durch direkte, nicht vom Tennô oder dem Hof vermittelten Bezügen auf die göttliche Unterstützung der Buddha und kami eine ideelle Sanktionierung ihrer Machtposition erreichen konnten.
Im Verlauf der Diskussion über die tugendhafte Regierung des Monarchen kristallisierte sich im 13. Jahrhundert eine Vorstellung heraus, nach der einzelne Herrscher sehr wohl fehlbar sein konnten und dafür durch göttliche Kontrolle – sowohl aus dem Bereich des Shintô wie auch des Buddhismus – bestraft werden können. Allerdings wurde die Vorstellung, dass ein Herrscher oder eine Dynastie das Mandat des Himmels verlieren und danach ersetzt werden könnte, nicht aus China übernommen. Innerhalb der herrschenden Elite konnte sich die Vorstellung nicht durchsetzen, dass eine Familie sich über die bestehende politische und soziale Hierarchie hinweg an die höchste Machtposition setzen darf. Krisenhaften Situationen wie z.B. Naturkatastrophen und kriegerische Auseinandersetzungen wurde begegnet, in dem durch rituelle Handlungen das buddhistische Gesetz und das königliches Gesetz wiederhergestellt wurde.
Christoph Mittmann (Zürich): Yamagata Bantô (1748–1821) und dessen Werk Yume no shiro 夢の代 [Anstelle von Träumen]
In seinem Werk Yume no shiro analysiert und kritisiert Yamagata Bantô das zu seiner Zeit in Japan vorhandene Wissen in Bezug auf Wissenschaft, Tradition und Religion. Danach versuchte er, ein eigenes Wissenschaftssystem aufzubauen, um damit seine Wahrheit zu etablieren und dadurch auch die japanische Gesellschaft und deren Missstände anzuprangern. In seiner derzeit in Arbeit befindlichen Dissertation an der Universität Zürich im UFSP Asien und Europa stellt Christoph Mittmann vor allem die Frage, wie Yamagata die vielen verschiedenen Aspekte und Einflüsse auf seine Person in diesem Werk verbindet und welcher Aufbau bzw. welche Definition von Wissen und Wahrheit darin von ihm aufgestellt werden, um ihm als Grundlage seiner Kritik zu dienen.
Yamagata Bantô hat die ersten zwei Drittel seines Lebens als Händler gearbeitet und dann an der Kaitokudô Akademie studiert. Die Gründung dieser Einrichtung war u.a. dazu gedacht die gesellschaftliche Stellung der Händler aufzuwerten und ihnen Wissen zu ihrem Aufgabengebiet zu vermitteln. Innerhalb der Akademie herrschte eine sehr liberale Diskussionskultur ohne Standesunterschiede; die einzige Einschränkung bestand darin, dass dort Diskutiertes nicht dazu eingesetzt werden durfte um der Gesellschaft zu schaden.
In seiner Dissertation möchte Christoph Mittmann zuerst den großen Rahmen, dann die innere Struktur/den Aufbau des Werkes und schließlich die Verknüpfung des Werkes mit anderen Autoren analysieren. Beim ersten dieser Aspekte stellt sich die Frage danach, was Yamagata in sein Werk aufnimmt und was er ausschließt um daraus ableiten zu können, was er als Wissen bzw. Wahrheit betrachtet. Themen der inneren Struktur sind Weltbild, Kosmologie, Astronomie und die Frage was als ordnendes Prinzip dieses Weltbilds dargestellt wird. Weiterhin stellt sich die Frage nach dem Umgang mit den Zeitschichten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) im Werk. Hier hinterfragt Yamagata die klassischen Werke kritisch, in denen die Vergangenheit als Quell des Wissens dargestellt wird. Schließlich soll das Wissensnetzwerk Yamagatas analysiert werden. Dieses Netzwerk besteht aus Beziehungen zu anderen Händlern, anderen Gelehrten und der Tradierung von Quellen, besonders aus einem Kulturkreis in einen anderen. Christoph Mittmann stellt in seiner Arbeit die Forschungsfrage nach den Möglichkeiten, Formen und Praktiken von Studium im Allgemeinen in der späten Edo-Zeit sowie nach der Art und Weise, in der Kritik am bakufu geübt wird.
Yamagata Bantô benutzte für seine Studien viele europäische Quellen, die von Jesuiten oder auf Befehl des bakufu übersetzt worden waren. So beruft er sich z.B. auf eine Kosmologie John Keills als eine der Quellen für sein heliozentrisches Weltbild.
In der an den Vortrag anschließenden Diskussion wurden u.a. die Frage erörtert, in wie weit die Ansätze zu Wissen und Herrschaft von Foucault zur Analyse beitragen können, ob und warum das Werk von Yamagata zur Veröffentlichung gedacht war, ob Standesunterschiede in der späten Edo-Zeit in Gelehrtenkreisen in Japan noch wichtig waren und was Yamagata genau am bakufu kritisiert hat.
Constantin Künzl (Heidelberg): Japans Panasianismus und der Islam. Brührungspunkte zwischen der frühen Meiji-Zeit und 1945
In diesem Vortrag stellte Constantin Künzl erste Überlegungen zu seinem Promotionsvorhaben vor. Im Zentrum soll dabei der Begriff des Panasiasmus stehen. Asien selbst ist nicht einfach zu definieren, weil es kein rein geographischer Begriff sondern mehr eine ideologisch geprägte Fremdzuschreibung ist. So wurde „Asien“ im 19. Jahrhundert zur Gegenüberstellung mit dem „Westen“ verwendet und wird auch heute noch nach Belieben und politischem Zusammenhang definiert. Panasianismus enthält die Idee einer allgemein gültigen Identität, die ihre Wurzeln in einer kulturellen, ethnischen, religiösen und geographischen Gemeinsamkeit asiatischer Völker hat. Der Begriff ist entstanden in einem Kontext von „Pan“- Bewegungen und ein Produkt der Moderne als Kontrapunkt zum Zivilisationsanspruch des Westens.
In all diesen Definitionen ist der Islam nicht enthalten, obwohl es in Asien z.B. in Indonesien und Malaysia große muslimische Bevölkerungsteile gibt. Dennoch gibt es Berührungspunkte zwischen Panasianismus und Islam, z.B. in Kontakten von nationalistischen Bewegungen muslimischer Länder und Panasianisten, von Individuen und politischen Vereinigungen wie der Kokuryûkai und der Gen’yôsha. In der ersten Phase von Japans Auseinandersetzung mit dem Islam (1868–1905) standen Kontakte von Individuen im Vordergrund; Japan war vor allem mit seiner globalen Position vis á vis westlicher Industrienationen beschäftigt. In der zweiten Phase (1905–1920) schaffte Japans Sieg über Russlang ein neues Machtgefüge in der Region. Die Ablehnung von Japans Antrag auf Gleichberechtigung bei der Friedenskonferenz von Versailles 1919 führt dann aber zu Japans Abkehr vom Westen und der ideologischen Hinwendung zu Asien. Der Erste Weltkrieg hatte das positive Bild vom zivilisierten Westen zerstört. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Niedergang des zaristischen Russland kamen Muslime nach Japan und tauschten sich mit japanischen Panasianisten aus. In der dritten Phase (1930–1945) isolierte sich Japan dann wieder nach seinem Austritt aus dem Völkerbund 1933 und der kriegerischen Expansion auf dem Festland. Panasianismus wurde mehr und mehr zu einem sinnentleerten politischen Programm zur Rechtfertigung der Expansion. Die Islampolitik der 1930 Jahre mit der Gründung der Groß-Japanischen Islamgesellschaft 1938 wurde dann nur noch als Werkzeug des Expansionismus missbraucht.
Moritz Munderloh (Hamburg): Die Rolle der kaiserlichen Armee in der Verbreitung von Militarismus und Faschismus vor dem 2. Weltkrieg
In diesem Vortrag stellte Moritz Munderloh Teile seiner Magisterarbeit zu Rolle der Kaiserlich Japanischen Armee bei der Verbreitung von militaristischer und faschistoider Ideologie innerhalb der japanischen Bevölkerung vor. (In der Diskussion stellte Moritz Munderloh klar, dass mit dem Begriff Armee als Übersetzung des englischen Wortes army das japanische Heer und nicht die Marine gemeint ist.)
Es gab im Vorkriegsjapan keine faschistische Massenbewegung, aber auch kaum Opposition zu Militär, Krieg und Putschversuchen. Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützte die Richtung der Regierung, die Kaiserlich Japanische Armee und den rechtsradikalen Extremismus. Als Basis des japanischen Faschismus gilt die shintoistische Schöpfungsgeschichte. Betont wird im japanischen Faschismus die Überlegenheit des japanischen Volkes, ein wichtiges Element war die offensive und rassistische Außenpolitik sowie die Glorifizierung von Militär und als Besonderheit der Begriff des kokutai. Maruyama Masao unterteilt die Entwicklung des japanischen Faschismus in drei Phasen, nämlich die Vorbereitungsphase, die Reifephase und die Phase der Vollendung. In den ersten beiden Phasen handelt es sich um Faschismus von unten; danach spricht Maruyama von Faschismus von oben. In der Phase des Faschismus von unten waren Verbreiter der Ideologie aus der Bevölkerung sehr wichtig. Es stellt sich die Frage, wovon diese beeinflusst waren. Einen entscheidenden Beitrag hierzu lieferten durch ihr Lebenswerk zwei japanische Offiziere, nämlich Yamagata Aritomo und Tanaka Giichi, die jedoch keinesfalls als Faschisten bezeichnet werden können.
In Yamagatas Militärpolitik findet sich die Idee der Stärkung der Nation durch eine allgemeine Wehrpflicht, durch die auch die noch lückenhafte Schulbildung ergänzt werden sollte. Innerhalb des Militärs wurde mittels Indoktrination ein „Soldatengeist“ geschaffen und kontinuierlich bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs für die Verbreitung von militaristischem und letztendlich faschistischem Gedankengut in der Gesamtbevölkerung gesorgt. Strukturell war der Tennô zwar der oberste Befehlshaber, de facto war die Armee jedoch sehr unabhängig und hatte mit dem Armeeminister eine Lobby für ihre Belange in der Regierung. Die duale Kommandostruktur mit einerseits einem Armeeministerium und andererseits dem Generalstab war unproblematisch solange Yamagata am Leben war. Nach seinem Tod 1922 verselbständigte sich die militärische Führung allerdings, um eigene politische Vorstellungen durchzusetzen und ein eigenständiger Akteur in der Verbreitung militaristischer und faschistischer Vorstellungen zu werden.
Tanaka Giichi war hauptverantwortlich für den Aufbau des Reichsreservistenverbandes. Dieser sollte in zukünftigen Kriegen für schnelle Mobilmachung sorgen und durch die Ausbildung loyaler Soldaten insgesamt die Loyalität aller Bürger sicherstellen. Tanaka hatte Interesse, die Lücke zwischen Schulausbildung und Wehrpflicht zu schließen. Er ließ sich auf einer Europareise von militärisch kontrollierten Jugendverbänden inspirieren und schuf nach seiner Rückkehr ein japanisches Äquivalent. 1926 wurden zudem Jugendtrainingsschulen für junge Männer (ab 1935 auch junge Frauen) gegründet, die nicht auf die Oberschule übergingen. Dort unterrichteten viele Reservisten, die Lehrinhalte hatten neben allgemeinbildenden Themen viele militärisch relevante Aspekte. Mitte der 1930 waren fast 1 Million Schüler auf diesen Schulen, 1939 wurde ihr Besuch verpflichtend. Weiterhin übernahm der Reichsreservistenverband gesellschaftliche Aufgaben in der Nothilfe, militärische Aufgaben in der Betreuung von Rekruten und ihren Familien sowie patriotische Aufgaben wie Öffentlichkeitsarbeit für das Militär. Dadurch trug der Verband zur Indoktrination der Bevölkerung im Sinne der Tennô-Ideologie bei.
Sowohl Yamagata als auch Tanaka hatten bedeutenden Einfluss auf die Entstehung der Strukturen, die die Kaiserlich Japanische Armee dazu befähigten, Militarismus und Faschismus zu verbreiten und so die Bevölkerung zu willigen Unterstützern zu machen und Japan ohne signifikanten Widerstand in Richtung des Zweiten Weltkriegs zu führen.
In der Diskussion wurde die Verwendung des Begriffes Faschismus für Japan hinterfragt sowie die Rolle lokaler Akteure in der Verbreitung ultranationalistischer Vorstellungen bekräftigt. Für künftige Tagungen der Initiative wurde deshalb ein Panel zur Forschung über „Faschismus in Japan“ angeregt.
Oleg Benesch (York): Die Samurai nebenan: Bushidô und das chinesische Japanbild in Krieg und Frieden
In seinem Vortrag befasste sich Oleg Benesch damit, wie der japanische Bushidô in China besonders in der neueren Geschichte gesehen wurde. Eine Grundannahme ist hierbei, dass China von konfuzianisch ausgebildeten Staatsbeamten mit einem Fokus auf zivile Tugenden regiert wurde, während in Japan Krieger auf Grundlage militärischer Tugenden herrschten. Der Sino-Japanische Krieg 1894/95 verstärkte dieses Bild und führte zu einem Diskurs über den so genannten Bushidô, der keine historische Tradition oder Erscheinungsform eines japanischen „Volkscharakters“, sondern eine moderne Erfindung ist, die je nach Autor verschieden interpretiert und dargestellt wird. So wird Bushidô manchmal positiv als treibende Kraft der japanischen Wirtschaft, bisweilen aber negativ als Hauptgrund für modernen Militarismus und Kriegsverbrechen dargestellt.
In China spielt Bushidô seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtige Rolle in der Prägung des allgemeinen Japanbildes, da das größte Wachstum und der vorläufige Höhepunkt der Bushidô-Ideologie zeitgleich mit einer noch nie da gewesenen Welle von chinesischen Studenten, Aktivisten und Exilanten in Japan stattfand. Chinesische Intellektuelle führten die Meiji-Restauration auf Bushidô zurück, während chinesische Studenten an japanischen Hochschulen und Militärakademien zusammen mit ihren Kommilitonen der Bushidô-Ideologie ausgesetzt wurden. Als die Beziehungen zwischen Japan und China sich verschlechterten, wurde Bushidô in China zunehmend negativer betrachtet, obwohl eine gewisse Vielfältigkeit der Auslegung des Begriffes weiterhin erhalten blieb. Nach 1945 verlor Bushidô weltweit an Bedeutung, wurde aber in Japan schon bald nach Kriegsende in neuer Form wiederbelebt. Das chinesische Interesse an dem Thema begann erst in den 1980er Jahren wieder zu wachsen. Diplomatische Spannungen trugen im Verlauf der letzten 20 Jahren dazu bei, dass chinesische Autoren hunderte von Büchern und Artikeln über Bushidô veröffentlicht haben. In diesen Schriften wird Bushidô oft als Erklärung für einen „angeborenen“ japanischen Militarismus dargestellt und ist ein Hauptthema in Studien über Japan. Dadurch hat diese Ideologie noch heute weitreichende Auswirkungen auf die chinesisch-japanische Beziehungen auf staatlicher und kultureller Ebene.
Abschlussdiskussion und Projektvorstellung:
Maik Hendrik Sprotte (Halle) wies auf die Calls for Papers der Sektionen zum Japanologentag 2015 hin, die unter www.japanische-geschichte.de/011/ zusammengestellt wurden, soweit Sie einen historischen Bezug haben. Außerdem wies er auf das Programm der Sektion „Geschichte“ auf der bevorstehenden Tagung der “European Association for Japanese Studies” (EAJS) in Ljubljana, Slowenien (27. bis 30. August 2014) hin, das im Internet zur Einsicht bereitsteht (www.japanische-geschichte.de/012/). Außerdem bat Sprotte erneut um Meldungen von Autorinnen und Autoren für die „Bibliographie zur historischen Japanforschung“, auf deren Internetpräsenz unter www.historische-japanforschung.de ein Formular dafür zur Verfügung steht.
Danach wurden folgende Projekte vorgestellt:
(1) Christoph Mittmann (Zürich) stellte sein Projekt „Wahrnehmung des Anderen in Japan und Korea“ vor, das er gemeinsam mit Juljan Biontino (Seoul University) durchführt.
(2) Kora Hiromi (Jena) stellte ihr Dissertationsvorhaben mit dem Titel „Anthropoiesis im Rahmen der westlichen und östlichen anthropologischen Prinzipien. Der Versuch eines Vergleiches der Theorien der Menschenbildung von Motomori Kimura und Otto Friedrich Bollnow“ vor.
(3) Andreas Renner, neuer Lehrstuhlinhaber für Russland/Asienstudien an der LMU München, ließ durch Maik Hendrik Sprotte darauf hinweisen, dass er mittelfristig plane, einen Workshop zur historischen Russland-Japanforschung in München zu organisieren. Maik Hendrik Sprotte (maik@sprotte.name) stellt gerne einen Kontakt zwischen Herrn Renner und Interesssierten her.
(4) Jan Schmidt (Bochum) wies auf zwei Tagungen hin, die er im Herbst zusammen mit Katja Schmidtpott (FU Berlin) veranstaltet: „The East Asian Dimension of the First World War: The ‚German-Japanese War‘ and China, 1914–1919″ (5.–7. September 2014, Ruhr-Universität Bochum) und „Observing the First World War from the ‚Periphery’: Knowledge Transfer and the Transformation of Societies“, 8.–9. November 2014, Freie Universität Berlin).
Das Plenum dankte der Gesellschaft für Japanforschung (GJF) besonders herzlich für die finanzielle Unterstützung der Tagung und dankte auch den Organisatoren und Helfern aus Halle.
(Protokoll: Anke Scherer)
24. Treffen am Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin am 22. und 23. November 2014
Anwesend waren in Berlin: Juliane Aso (Berlin), Niels Bader (Berlin), Ulrich Brandenburg (Zürich), Teelka Groeneveld (Bochum), Lisa Hammeke (Bochum), Maj Hartmann (Bochum), Olga Isaeva (Bonn), Thorsten Kerp (Bonn), Bernd Kirchner (Heidelberg), Till Knaudt (Heidelberg), Gerhard Krebs (Berlin), Heiko Lang (Tôkyô), Anne Lange (Halle), Bernhard Leitner (Wien), Hiroe Matsui (Tôkyô), Martha-Christine Menzel (Berlin), Kenji Nishino (Bonn), Julian Plenefisch (Berlin), Jakub Poprawa (Bochum), Stefanie Schäfer (Berlin), Anke Scherer (Köln), Jan Schmidt (Bochum), Tino Schölz (Halle), Felix Spremberg (München), Niko Tillmann (Bochum), Dinah Zank (Berlin), David Ziegler (München).
Vorträge:
Hiroe Matsui: Lorenz von Stein und seine Japantheorie — Lorenz von Steins Rolle innerhalb der Vertragsrevisionen in den 1880er Jahren
Die bisherige historiographische Forschung hat sich mit Lorenz von Stein vorrangig im Zusammenhang mit seiner überragenden Bedeutung für die Einführung der europäischen Staats- und Rechtswissenschaften in Japan befasst. In ihrem Vortrag ging Hiroe Matsui der These nach, dass von Stein auch für die Neuverhandlungen der „ungleichen Verträge” eine zentrale Rolle spielte. Sie wies dies einerseits durch eine Rekonstruktion seiner Kontakte mit Vertretern der japanischen diplomatischen Delegation und andererseits durch seine publizistische Tätigkeit nach. Von Stein war, laut Hiroe Matsui, für das deutschsprachige Publikum die Stimme zu Japan in den Medien. Seine Schriften betonten dabei stets die erfolgreiche Modernisierung Japans, die das Land mit westlichen Staaten auf eine Stufe stellte und eine Gleichbehandlung notwendig machte. Damit trug er zu einem öffentlichen Klima bei, das eine Revision der Verträge begünstigte.
Die anschließende Diskussion drängte darauf zu klären, inwiefern diese Arbeit über die Grenzen der Stein-Forschung hinaus einen Beitrag zu konzeptionellen oder theoretischen Diskussionen liefern kann. Ursprung dieser Debatte sind unterschiedliche geschichtswissenschaftliche Ansätze, welche der Theoriebildung bzw. der Quellen fokussierten Faktensuche unterschiedliche Bedeutungen beimessen. Daneben wurde angemerkt, dass nihon-ron passender als „Japanbild“ (anstatt „Japantheorie”) übersetzt werden sollte und dass man die Dolmetscher eingehender betrachten müsse, da von Stein durch seine mangelnden Sprachkenntnisse von diesen vollkommen abhängig war.
Stefanie Schäfer: Die Bedeutung des Tourismus für die Entstehung des öffentlichen Atombombenerinnerns
Anhand von Dokumenten der Stadtverwaltung Hiroshima aus den späten 1940ern und frühen 1950er zeigte Stefanie Schäfer, dass die Entwicklung einer städtischen Tourismusstrategie für die Entstehung des öffentlichen Atombombenerinnerns von großer Bedeutung war. Dass dieser Aspekt bislang durch die Forschung nicht beachtet wurde, gründet laut Referentin darin, dass Quellen, welche gewöhnlich unmittelbar mit dem Atombombenerinnern assoziiert werden, den Tourismus vollkommen ausblenden. Anstatt diese Lücke als Beleg für die Irrevelanz des Tourismus zu lesen, kann man sie auch als Indiz nehmen, dass Wissenschaftler die delegitimierende Wirkung, welcher „Tourismus“ auf das Erinnern hat, reproduzieren, anstatt sie kritisch zu analysieren. Auch muss beachtet werden, dass der moderne Tourismus als Authentizitätssuche nur funktioniert, solange er nicht als Tourismus erkennbar ist. Die Abwesenheit des Tourismus im Atombombendiskurs, die Vehemenz, mit der man dieses Thema von sich weist, und die Tourismusstrategie der Stadt ergeben daher ein stimmiges Gesamtbild, dass die Bedeutung des Tourismus untermauert.
In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass sich Hiroshima damit in das weitläufige Phänomen des dark tourism einreihe und man nach dem besonderen Reiz dieses Tourismus fragen müsse. Auch wurden Parallelen zur touristisch motivierten Erinnerungslandschaft Okinawas gezogen. Dass „Frieden“ das zentrale Konzept im touristischen Branding Hiroshimas war, ist laut Referentin nicht nur den Wünschen der Besatzer, sondern auch der allgemeinen Stimmung unter der Bevölkerung geschuldet. Der Atombombentourismus sei ferner nicht per se zynisch für die Überlebenden, wie in der Diskussion angedeutet, sondern man müsse beachten, dass die hibakusha selbst den Atombombentourismus entwickelten. Bei der Betrachtung der Erinnerungskultur zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren differenzieren müsse.
David Ziegler: Kami, Kaiser, Vaterland: Der japanische Ultranationalismus als politische Religion
Vorhandene – zumeist funktionalistische, aus der Beschäftigung mit westlichen Faschismen entstandene – Theorien zu totalitären Systemen erklären den japanischen Ultranationalismus nur unzulänglich. Der Begriff der „politischen Religion“ eröffnet laut David Ziegler eine Möglichkeit, einerseits die Wirkungsweise des japanischen Systems zu erklären und andererseits vorhandene Theorien um eine komparativ anwendbare Analysekategorie zu ergänzen. Die politische Religion versteht David Ziegler im Sinne Claus-Ekkehard Bärschs als handelsleitendes Welterklärungsmuster jenseits einer rein auf Partikularinteresse basierenden Propaganda. Die politische Religion sakralisiert den Staat und erhebt diesen zur ultima ratio des Kollektivs. David Ziegler wies die verschiedenen Dimensionen der politischen Religion (Primat des Kollektivs, Ritual als dessen Selbstvergewisserung etc.) in ihren für den japanischen Ultranationalismus spezifischen Formen am Beispiel ausgewählter Intellektueller der 1920er und 1930er nach.
In der Diskussion wurde die Verbindung zwischen Ideologie und politischer Macht angesprochen. Der Vortragende ergänzte, dass eine vollständige ideologische Durchdringung der Gesellschaft nicht notwendig sei, damit eine Ideologie ihre Wirkungskraft entfaltet. Wichtig sei die ideologische Rahmung relevanter Entscheidungsprozesse. Auf Rückfrage ergänzte der Vortragende, dass zeitgenössische Beobachtungen, die ähnliche Aspekte diskutieren, in die Analyse miteinbezogen werden. Die Zuhörer betonten nochmals die Bedeutung des vorhandenen Repressionsapparats für den Erfolg des japanischen Ultranationalismus, die Heterogenität und Brüche der intellektuellen Entwicklungslinien, die der Vortrag aufzeichnete, sowie die Bedeutung nicht-textlicher kultureller Produkte für das Funktionieren der politischen Religion.
Olga Isaeva: Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack – Fallbeispiel der 1920er Avangarde-Gruppe MAVO in Japan
In ihrem Vortrag stellte Olga Isaeva einen Teil ihrer Masterarbeit vor, in der sie sich anhand der Künstlergruppe MAVO mit allgemein üblichen Vorstellungen von Peripherie und Zentrum auseinandersetzt, wie sie die derzeitige Auseinandersetzung mit der Avantgarde bestimmen. In jüngerer Zeit wurde verschiedentlich kritisiert, dass das herkömmlich Verständnis der Avantgarde und ihre Theorien auf einem eurozentrischen Weltbild beruht, das dem kreativen, dominanten Westen eine passive, epigonenhafte Peripherie entgegenstellt. Der Vortrag zeigte anhand der Künstlergruppe MAVO, insbesondere anhand ihrer Schlüsselfigur Murayama Tomoyoshi, wie diese zwar in Europa künstlerische Impulse erhielten, nach ihrer Rückkehr nach Japan jedoch daraus neue, eigenständige Kunststile entwickelten. Ihre Kunst sei, so Olga Isaevas Ergebnis, eine Mahnung, die Avantgarde nicht in hierarchischen, starren Begrifflichkeiten wie Peripherie und Zentrum zu denken und außereuropäischen Kunstzentren mehr Beachtung zu schenken.
In der Diskussion wurde weithin die kritische Auseinandersetzung mit den Konzepten Peripherie und Zentrum sowie der durch sie vermittelten Herrschaftsordnung begrüßt. Dieses Thema sei, so die einhellige Meinung, über die Kunstgeschichte hinaus von großer Relevanz. Es wurde darauf verwiesen, dass Tokyo seinerseits andere Länder, asiatische wie auch europäische, und ihre Kunst beeinflusste. Die westliche Moderne, so hieß es weiter, kam schließlich maßgeblich aus der Auseinandersetzung mit japanischer Kunst. Kritisch angemerkt wurde, dass Leben und Werk Murayamas, so wie sie im Vortrag dargestellt wurden, sowie die Analyse, welche auf einem Vergleich Murayamas mit seinen europäischen Einflüssen fußt, drohten, in das alte Schema, das Europa als den Ursprung der Avantgarde und Japan als deren Epigone versteht, zurückzufallen. Dieser Ansicht wurde verschiedentlich widersprochen, übersehe sie doch einerseits die Bedeutung Japans für die Entstehung der europäischen Moderne, andererseits die Eigenständigkeit und Strahlkraft der japanischen Avantgarde.
Juliane Aso: Japanischer Kolonialismus im Spiegel von Geografieschulbüchern, 1905–1945
Der Vortrag von Juliane Aso präsentierte einen Überblick über ihre Magisterarbeit zum Thema „Japanischer Kolonialismus im Spiegel von Geografieschulbüchern, 1905–1945“. Die jüngere Debatte zum japanischen Identitätsdiskurs während der Kolonialzeit wurde stark von Oguma Eijis These bestimmt, dass das koloniale Japan heterogene Identitäten beförderte und dass die für Japan als typisch betrachtete Homogenität erst in der Nachkriegszeit aufkam. Schulbücher sind in seinem Verständnis ein Beispiel für die Heterogenität des japanischen Kolonialismus. Ausgehend von dieser These untersuchte Juliane Asos Arbeit die Darstellung der Kolonien in japanischen Geografieschulbüchern und deren Wandel. Sie kam zu dem Schluss, dass die einzelnen Regionen sich zwar stark unterscheiden, dass diese Heterogenität jedoch nicht gleichberechtigt ist, sondern durch eine starke Hierarchisierung zwischen dem japanischen Kernland (naichi) und den Kolonien (gaichi) bestimmt wird, aber auch zwischen den Kolonien untereinander. Dabei variiert die Darstellung der Kolonie zwischen vormodernem Sehnsuchtsort (vis á vis eines sich rasch modernisiernden Zentraljapans) und Beleg für eine gelungene Modernisierung, welche implizit die japanische Herrschaft über dieses Gebiet legitimiert. Auffallend in der Analyse der Schulbücher war ferner die große Diskrepanz zwischen Bild- und Textdiskurs.
Auf Rückfrage in der anschließenden Fragerunde ergänzte die Vortragende, dass auch Okinawa und Hokkaido in den von ihr untersuchten Schulbüchern zur gaichi gehörten. Was die Verwendung des Wasserbüffels in den Taiwan-Kapiteln der Schulbücher betrifft, erläuterten einige Teilnehmer, dass dieser in der japanischen Malerei als Symbol für China galt und nicht nur ein Symbol für die Zurückgebliebenheit der Peripherie, wie im Vortrag konstatiert. Auf Nachfrage erklärte Juliane Aso, dass die veränderte politische Lage Nan’yos auch durch die Schulbücher reflektiert wird, jedoch ist nie von dem Plan, das Gebiet nach erfolgreicher Modernisierung in die Unabhängigkeit zu entlassen, die Rede.
Wolfram Manzenreiter: Konturen des japanischen Emigrationsstaats – Migrationsmanagement und Diaspora Outreach im Kaiserreich des frühen 20. Jahrhunderts
In seinem Vortrag gab Wolfram Manzenreiter einen Überblick über die Wurzeln der japanischen Migrationspolitik. Ausgangspunkt für dieses Interesse sind neuere Tendenzen in der Migrationsforschung, die sich mit der Verschränkung von Migration und Entwicklungspolitik befassen. Damit rücken Senderstaaten in den Fokus, welche gezielte Auswanderungspolitik betreiben. Historisch gesehen ist Japan ein Beispiel für einen solchen Migrationsstaat, wodurch bis heute Entwicklungshilfe und Emigrationsdienste institutionell eng miteinander verbunden sind. Seine Wurzeln hat dieses System in der Kaiserzeit und wird durch seinen Ursprung bis in die Gegenwart bestimmt. Durch gezielte Emigrationsförderung ließ sich der problematische Bevölkerungszuwachs exportieren. Dabei stellten Emigranten auf dem internationalen Markt eine Ware dar, welche auf die durch die Beendigung des Sklavenhandels entstandene Nachfrage nach Arbeitskräften reagierte. Im Kontext des japanischen Kolonialismus und Expansionismus waren Arbeiter ferner ein wichtiges Instrument der Herrschaftserweiterung. In der Nachkriegszeit verloren diese Aspekte an Bedeutung, wodurch die Auswanderungsrate allmählich gegen Null sank, während die Entwicklungshilfe im heutigen Sinne stieg. Auswanderungspolitik wird heute vorrangig als Diasporapflege betrieben, um wirtschaftliche Kooperationen im Ausland zu vereinfachen.
Die Diskussionsrunde wurde durch den Vortragenden mit der Frage eröffnet, wie Historiker mit der Fülle historischer Quellen zu diesem Thema umgehen und ob statistische Auswertungen der Auswandererlisten vorliegen. Diese Listen bieten aufgrund von bewussten Falschangaben der Auswanderer selber keine robusten Daten. In der Diskussion wurde ferner auf die Notwendigkeit verwiesen, die Diskussion kaiserzeitlicher Auswanderung nach Zielregionen zu differenzieren.
(Protokoll: Stefanie Schäfer)