Protokolle der 36.-40. Tagung aus den Jahren 2021-2024:
36. Treffen im Online-Format am 05. & 06. Juni 2021
Das 36. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 5. und 6. Juni 2021 in einem Online-Format statt und wurde von Tino Schölz, Julia Beatrix Süße, Alexander Toby Wolf und Maik Hendrik Sprotte (Freie Universität Berlin) organisiert.
Vorträge:
Maria Shinoto (Heidelberg / Beppu): 30 Jahre archäologische Forschungen in Japan – von der Japanologie zur Archäologie
Im ersten Vortrag berichtete Maria Shinoto von ihrer bereits drei Jahrzehnte währenden archäologischen Forschung in Japan. Anders als noch in ihrer Studienzeit, als sie sich ausschließlich auf schriftliche Quellen stützten musste, greift sie für ihre Arbeit auf dem Gebiet der Hayato-Archäologie in Süd-Kyūshū (Satsuma, Ōsumi) heutzutage auf materielle Hinterlassenschaften zurück und nutzt moderne Technik wie Lidar zur Untersuchung von Fundstätten und chemische Analysen zur Provenienzforschung. Das Volk der Hayato lässt sich ab der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts nachweisen und seine Ethnogenese reicht wahrscheinlich in die Yayoi- oder Kofun-Zeit zurück. Zeitlich und regional ist die Narikawa-Keramik – Irdenware, die von Frauen an ihre weiblichen Nachkommen weitergegeben wurde und sich bis ins 9. Jahrhundert eigenständig entwickelte – mit den Hayato in Verbindung zu bringen, die Grabsitten hingegen weichen ab. Im Brennofenzentrum von Nakadake wurden mittels Lidar eine überraschend hohe Zahl von Keramiköfen (ca. 60) prospektiert, trotz großer Entfernung von der Provinzverwaltung, die normalerweise ein wichtiger Abnehmer von Keramik war. Da auch die vor Ort vorhandenen Rohstoffe eine schlechte Qualität aufweisen und somit nicht der Grund für die Ortswahl sein können, liegt die Vermutung nahe, dass die Öfen aus Handelsgründen nahe an einem Hafen platziert wurden. Außerdem bestand eine starke lokale Unabhängigkeit.
Einen Schwerpunkt der Forschung bilden verzierte Grabtumuli (sōshoku kofun), Bestattungen mit Ritzungen und Bemalungen in der Grabkammer und am Eingang, von denen wahrscheinlich über Tausend existieren. Zu ihrer Erforschung setzt Maria Shinoto Datenmodulierung in Form von aoristischer Analyse ein, die zeigt, dass der Bau dieser kofun im 4. Jahrhundert begann und im 6. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte. Ab der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts sind figürliche Darstellungen, z. B. von Bogenschützen, zu finden, in Ostjapan werden zudem viele Erzählungen bildlich dargestellt. Auch Einflüsse aus Nordkorea lassen sich erkennen.
An den Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an, in deren Verlauf u. a. darauf hingewiesen wurde, dass auf dem Feld der Architektur teils ähnliche Schwierigkeiten bei der zeitlichen Einordnung von Bauwerken bestehen wie in der Archäologie. Mehrere Fragen wurden zu den Verzierungen der Gräber gestellt: So ist die Darstellung von Kröten wahrscheinlich auf chinesische Einflüsse zurückzuführen, die genauen Vorstellungen vom Totenreich zu jener Zeit sind jedoch ungeklärt. Häufig finden sich auch Sonnenscheiben bzw. Spiegeldarstellungen, die sich aber je nach Ort unterscheiden und bei den Gräbern ärmerer Menschen als Ersatz für Grabbeigaben dienten. Probleme bei der Untersuchung der Fundstätten bereiten zum einen giftige Insekten, zum anderen Keramiksammler, die die Region in immer größerer Zahl aufsuchen. Pläne, Nakadake zum Denkmal zu erklären, könnten die weitere Forschung ganz verhindern.
Alexandra Weber (Halle [Saale]): Der Einfluss europäischer Rüstungen auf das Kriegsequipment der Samurai zur Azuchi-Momoyama- und frühen Edo-Zeit
Im zweiten Vortrag des Samstags stellte Alexandra Weber ihre Masterarbeit über den „Einfluss europäischer Rüstungen auf das Kriegsequipment der Samurai zur Azuchi-Momoyama- und frühen Edo-Zeit“ vor. Zur Erforschung dieses Themas, zu dem es kaum Vorarbeiten gibt, wendet sie Methoden der Kunstgeschichte und teilweise der Archäologie an.
Japanische Krieger – unter ihnen besonders Oda Nobunga im Zuge der Reichseinigung – griffen verstärkt auf westliche Waffen und Rüstungen zurück, sodass sich eine rege Importtätigkeit entwickelte. Helme, Kürasse und Kragenstücke aus europäischer Fertigung wurden in japanische Rüstungen integriert und dafür häufig umgearbeitet. Dennoch blieben deutliche Unterschiede zur japanischen Tradition bestehen, so etwa Brustplatten aus einem Stück statt der in Japan üblichen Lamellen. Bei den eingeführten Rüstungsteilen handelte es sich zwar um recht einfache Stücke, in Japan wurden sie jedoch als kostspielige Objekte der Oberschicht gehandelt. Bald begann man deshalb, Imitationen in Japan herzustellen. Als während der Edo-Zeit der praktische Nutzen hinter dekorative und repräsentative Aspekte zurücktrat, entstanden rasch zahlreiche neue Modelle. Während heute nur noch drei Originalrüstungen aus Europa in Japan erhalten sind, existiert eine große Zahl dieser Eigenproduktionen, deren Eigenschaften und Unterschiede die Referentin anhand von Illustrationen erörterte.
Sie wies ferner auf die problematische Benennungskonvention dieser Rüstungen hin: Zwar wird unter Verwendung der damaligen japanischen Bezeichnung für Europäer als „Südbarbaren“ (nanban) zwischen nanban-dō („Südbarbaren-Harnisch“) und wasei-naban-dō („Südbarbaren-Harnisch aus japanischer Fertigung“) unterschieden, diese Differenzierung ist aber vage und uneinheitlich, sodass zahlreiche von japanischen Plattnern hergestellte Rüstungen in einer für Laien verwirrenden Weise als nanban-dō bezeichnet werden. Alexandra Weber plädiert deshalb für eine Vereinheitlichung, indem der Terminus nanban-dō lediglich für Importe aus Europa, der Begriff wasei-naban-dō dagegen nur für japanische Imitate verwendet werden sollte.
In der Diskussion kam die Frage auf, warum die Japaner Umbauten an europäischen Rüstungsteilen vornahmen. Diese hatten zum Zweck, die Rüstungen leichter anziehen zu können. Zudem wurden der verwendete Begriff der „Imitation“ problematisiert, da er als abwertend verstanden werden könnte, sowie der praktische Nutzen einer feineren Unterscheidung von Rüstungsteilen nach deren Herkunft in Zweifel gezogen.
Victor Fink (Heidelberg): Zur Stellung des kanshi in der Kulturgeschichte der Edo-Zeit
Im dritten Vortrag am Samstag widmete sich Victor Fink der Stellung des kanshi in der Kulturgeschichte der Edo-Zeit. Nach einer Gegenüberstellung verschiedener Periodisierungen der japanischen Geschichte gab er einen Überblick der politischen und kulturellen Dimension der Edo-Zeit. Während kanshi in der Edo-Zeit zunächst als veraltete konfuzianische Scholastik angesehen wurden, kam es um 1800 in Auseinandersetzung mit Song-zeitlichen Vorbildern zu einer Erneuerung. Einen Wendepunkt stellten die Studien Ogyū Sorais dar. Neben diesem widmet sich Victor Fink in seiner Forschung vor allem Hokuzan und Okubo Shibutsu, wobei die Frage nach der Individualität und Subjektivität der Dichter im Mittelpunkt steht. Der Referent greift auf Vorarbeiten von Michael Kinski, Samuel H. Yamashita und Peter Nosco zurück, um eine Theoretisierung der Edo-Zeit zu ermöglichen.
In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit der von Victor Fink für die Edo-Zeit benutzte Begriff des Feudalismus und die teleologisch-marxistische Geschichtsauffassung auf Japan anwendbar sind. Des Weiteren wurde diskutiert, ob neben den kanshi auch andere Gedichte der Zeit in den Blick der Untersuchung rücken sollten.
Julia Beatrix Süße / Alexander Toby Wolf (Berlin): Kurzpräsentation: 1. Tagung der „Studentischen Initiative Deutschsprachiger Japanologie“ (StIDJ)
In einer Kurzpräsentation stellten Julia Beatrix Süße und Alexander Toby Wolf ihr universitätsübergreifendes Projekt zur Ausrichtung einer Tagung von und für Studierende der Japanologie vor (https://stidjapanologie.wordpress.com/) und riefen dazu auf, sich mit Vorträgen zu beteiligen. Auf der Tagung, die thematisch in Sektionen aufgeteilt sein wird, sollen die Studierenden erste Konferenzerfahrungen sammeln können. Einreichungen sind unter stid.japanologie@gmail.com erbeten.
Tarik Merida (Berlin): Ein fehlgeschlagenes demokratisches Experiment? Die Bedeutung von Afroamerikaner/innen für Japan
Im vierten Vortrag beschäftigte sich Tarik Merida mit der Bedeutung von Afroamerikanern/innen für Japan. Während bisherige Studien den Schwerpunkt auf die afroamerikanische Perspektive gelegt und die Solidarität zwischen beiden Gruppen von „fellow victims of racism“ unterstrichen hatten, beleuchtete der Referent die japanische Sicht auf Afroamerikaner Anfang des 20. Jahrhunderts. Dabei dekonstruierte er die Auffassung, diese hätten Japan als Vorbild gedient, da sie „farbig, jedoch modern“ gewesen seien. Tatsächlich stellte Japan Anfang des 20. Jahrhunderts insofern eine Anomalie dar, als es zwar zu den weißen Nationen gezählt, aber international nicht voll anerkannt wurde. Die japanische Sicht auf Afroamerikaner war dabei häufig ambivalent, nämlich von Empathie sowohl für die afroamerikanische als auch die weiße Bevölkerung der USA geprägt.
Mit wachsender Diskriminierung von Japanern in den Vereinigten Staaten Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs auch das japanische Interesse an der Behandlung von Afroamerikanern. Einerseits bot sich so die Möglichkeit, Kritik am Umgang der USA mit anderen „Rassen“ zu üben. Andererseits wurden Afroamerikaner von japanischer Seite aber oft als unreif, triebgebunden, unselbständig und faul angesehen. Da sie vermeintlich ihre Rechte und Chancen nicht nutzten, galt ihre Emanzipation als gescheitertes demokratisches Experiment. So konnte der Kontrast zu Japan betont werden, dem Rechte verwehrt blieben, die Afroamerikaner genössen, obwohl sie sie eigentlich nicht verdient hätten. Im Anschluss entspann sich eine Diskussion darüber, wie Kolonialismus zu definieren ist und ob sein Vorhandensein den modernen Nationalstaat voraussetzt oder auch unabhängig davon vorkommen kann.
Julius Becker (Potsdam): Die globale Wirkung des Ersten Chinesisch-Japanischen Krieges
Als letzter Programmpunkt des Samstags präsentierte Julius Becker sein Dissertationsprojekt zur globalen Wirkung des Ersten Chinesisch-Japanischen Krieges. Dabei zeichnete er die Interessen und das Handeln der großen europäischen Mächte gegenüber China und Japan nach. Während Großbritannien etwa von einer ursprünglich pro-chinesischen zu einer japanfreundlichen Haltung überging, näherte sich Deutschland immer mehr China an. Dabei wurde häufig europäische Politik auf Ostasien projiziert, Territorialinteressen und Allianzen spielten eine entscheidende Rolle. Bisherige Studien stützten sich auf Zeitungsberichte in Asien; Akten in den europäischen Außenministerien fanden jedoch kaum Beachtung.
Julius Becker zieht hingegen neben der einschlägigen Sekundärliteratur, Zeitungen und zeitgenössischer Literatur auch Aktenbestände des deutschen, französischen und britischen Außenministeriums sowie Bankarchive heran, um folgenden Forschungsfragen nachzugehen: Wie veränderte sich die Außen- und Kolonialpolitik? Welche Rolle spielten wirtschaftspolitische Aspekte? Wie wandelte sich das Japan- und Chinabild? Welchen Einfluss hatte die Berichterstattung auf die Außenpolitik?
Im Anschluss wurde die Frage diskutiert, wie die Rolle der chinesischen und japanischen Akteure berücksichtigt werden könnte und ob und inwieweit sich deren Handeln in der englischsprachigen Korrespondenz widerspiegele. Ferner wurde die Gefahr thematisiert, aus europäischen Quellen ein zu positives Japanbild zu übernehmen, da Japan effektivere Propagandaarbeit betrieb als China. Hinterfragt wurde auch, ob die Auswahl der Quellen sich nicht zu stark auf staatliche Akteure konzentriere.
Fabienne Hofer-Uji (Ōsaka): Der deutsche Einfluss auf die japanische Kolonialpolitik
Den ersten Programmpunkt am Sonntag bildete Fabienne Hofer-Ujis Vortrag zum deutschen Einfluss auf die japanische Kolonialpolitik. Die Arbeit konzentriert sich auf die Geschichte Taiwans als Kolonie. Laut dem bisherigen Forschungsstand schwankte die japanische Kolonialpolitik dort zwischen dem britischen Modell (Kronkolonie wie Ceylon oder Hongkong) und dem französischen (Annexion wie in Algerien). Jedoch sprechen Fabienne Hofer-Uji zufolge vier Gründe dafür, dass es auch zu einer Beeinflussung durch Deutschland kam: 1.) Der Beginn der Kolonialzeit fällt in das goldene Zeitalter der deutsch-japanischen Beziehungen während der 1870er bis 1890er Jahre. 2.) In der Gouverneursregierung auf Taiwan waren viele japanische Beamte mit Deutschlanderfahrung tätig. 3.) Häufig finden sich Verweise auf deutsche Methoden in offiziellen Untersuchungen der Behörden. 4.) Unter allen erwähnten Ländern ist Deutschland in den Berichten regierungsnaher Zeitschriften am dritthäufigsten vertreten. Somit lässt sich ein Interesse der Gouverneursregierung an Deutschland konstatieren.
Dabei liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der ersten Phase der japanischen Kolonialherrschaft zwischen 1895 und 1919 sowie auf vier hochrangigen Beamten mit Deutschlanderfahrung im Umfeld des Gouverneurs Gotō Shimpei, darunter der Jurist Okamatsu Santarō, der die „alten Bräuche“ Taiwans unter Rückgriff auf europäische rechtswissenschaftliche Methoden untersuchte. Die Dissertation positioniert sich innerhalb der Global History und greift Foucaults Konzept der Gouvernementalität auf. Da die Studie in ihrer jetzigen Form zu umfangreich ist, plant die Referentin, sich auf die Inspektionen deutscher Kolonialgebiete zu beschränken.
Im Anschluss wurde diskutiert, wie die Dissertation sich von Nadine Heés Studie zur japanischen Kolonialpolitik auf Taiwan unterscheide. Fabienne Hofer-Uji gab zu bedenken, dass sich Heé speziell mit Gewaltstrukturen befasst und sich nicht nur auf den Anfang der Kolonialzeit beschränkt. Einen weiteren Diskussionspunkt stellte der Begriff des Einflusses dar: Statt eines direkten Transfers ist es angemessener, von Diffusion zu sprechen. Zudem sollten bei der Untersuchung der Rezeption ausländischer Vorbilder stets auch die Vorprägung und Interessen der japanischen Akteure berücksichtigt werden. Zuletzt wurde darauf hingewiesen, dass sich der deutsche Einfluss am besten durch Kontrastierung mit den französischen und britischen Modellen herausarbeiten lässt.
Juljan Biontino (Chiba): Der Berg Namsan in Seoul als Schauplatz der japanischen Assimilationspolitik (1890–1945)
Im zweiten Vortrag am Sonntag griff Juljan Biontino das Thema seiner Dissertation, „Der Berg Namsan in Seoul als Schauplatz der japanischen Assimilationspolitik (1890–1945)“ auf, deren Veröffentlichung er zurzeit vorbereitet. Für seine Untersuchung zog der Referent die Ansätze der Erinnerungskultur und der Ritualtheorie heran.
Seit dem späten 19. Jahrhundert entstanden um den Namsan, dem traditionell eine Schutzfunktion für die Stadt Seoul zugeschrieben wurde, japanische Schreine sowie vereinzelte Tempel, bis der Berg zur Zeit des Zweiten Weltkriegs schließlich komplett von japanischen religiösen Stätten umgeben war. Schon 1893 wurden japanische Siedlerschreine errichtet, ab 1916 bestand der Keijō jinja als Schutzschrein von Seoul. Von 1936 an sollte dort durch Verehrung einer neu kreierten koreanischen Shintō-Gottheit auch die koreanische Bevölkerung einbezogen werden. 1925 wurde der Chōsen jingū, der größte Schrein Koreas, auf dem Namsan eingeweiht, an dem neben Amaterasu auch der Meiji-Tennō verehrt wurde. Sukzessive wurde die Teilnahme an den dortigen Ritualen verpflichtend, sodass es zu einer Diskriminierung von Koreanern und einem Eindringen in die Sphäre privater Religiosität kam. Hinzu trat die Nutzung der Schreine für die Verehrung koreanischer Soldaten in der japanischen Armee. Itō Hirobumi wiederum wurde der buddhistische Tempel Hakubunji gewidmet. Auf diese Weise diente der Namsan als Basis der japanischen Assimilationspolitik, indem er sowohl genutzt wurde, um die koreanische Bevölkerung über die Bräuche und Kultur Japans aufzuklären sowie deren Anerkennung in der Kolonie zu fördern, als auch eine Rolle als Ort der Loyalitätsbekundung gegenüber den Kolonialherren spielte.
In der Diskussion wurde ein vergleichendes Projekt zur Assimilationspolitik in Taiwan und Korea angeregt, das jedoch bereits läuft. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass es Bemühungen in Korea gab, die japanische Assimilationspolitik für die rechtliche Gleichstellung von Koreanern zu kooptieren.
Ayako Ito (Kassel): Shinichi Suzuki und sein Beitrag zur Musikpropaganda im imperialistischen Japan
Den dritten Vortrag am Sonntag hielt Ayako Ito zu ihrer Dissertation über den Geiger Shinichi Suzuki und seinen Beitrag zur Musikpropaganda im imperialistischen Japan. Die nach ihm benannte Suzuki-Methode wird weltweit eingesetzt, um Kindern ab drei Jahren das Spielen nach Gehör und anfangs ohne Noten beizubringen. Seit den 1970er Jahren kommt dieser instrumentalpädagogische Ansatz auch in Deutschland zur Anwendung. In der öffentlichen Wahrnehmung stößt die Suzuki-Methode auf ein geteiltes Echo: Während Kritiker strengen Drill und endlose Wiederholungen als Erziehung zur Konformität anprangern, schätzen die Befürworter den reformpädagogischen und kindgerechten Ansatz sowie den Kosmopolitismus der Methode. Auch die Forschung betont bislang die kosmopolitische Tendenz Suzukis und seines Werks, eine gründliche historische Aufarbeitung hat jedoch bisher nicht stattgefunden.
Anhand seiner Schriften zeigte die Referentin auf, dass Suzukis Denken nationalistische Züge aufwies. In der ersten Monografie zu seiner Methode aus dem Jahr 1941 lobte er das neue Tennō-zentrierte Grundschulgesetz und sprach sich dafür aus, ausländische Einflüsse zurückzudrängen. Er unterstützte die imperialistische Gesinnung und argumentierte, da Japan anderen Ländern überlegen sei, müsse es auf fremde Unterrichtsmethoden verzichten. Suzuki schwebte die Erziehung guter Menschen im Sinne der japanisch-konfuzianischen Tugendideale vor. Nach dem Krieg schwächte sich diese Gesinnung ab, blieb aber im Kern bestehen. So behauptete Suzuki 1946, die Komplexität einer Sprache korrespondiere mit der kulturellen Leistung eines Volkes, und leitete daraus einen Überlegenheitsanspruch der japanischen Sprache und Kultur ab. Er glaubte weiterhin an die Kontrollierbarkeit und Formbarkeit des Menschen, der durch Musik erzogen werden solle. In seiner Sicht des Kindes als „Tabula-Rasa“, das durch Erziehung erst geformt werden muss, übernahm Suzuki Teile von Alexis Carrels Menschenbild, das sich auch in der Suzuki-Methode widerspiegelt. Talent verstand Suzuki als etwas, das sich der Mensch aneignen muss. Durch Musik sollten Kinder von Egoismus und Ungehorsam gereinigt und zu guten Menschen erzogen werden.
Im Anschluss an den Vortrag wurde diskutiert, wie Suzukis Kritik am japanischen Staat im Jahr 1941 zu deuten ist, die auf der freien Erziehung der Taishō-Zeit fußte, und wie er die Ideen der 1920er Jahre rezipierte. Ebenfalls kam die Frage auf, wie viel seines Gedankenguts tatsächlich von Suzuki selbst stammt und welcher Teil er von anderen übernommen hat. Schließlich wurde besprochen, ob der Nationalismusbegriff auf Suzuki zutrifft oder es sich in seinem Fall um Rassismus handelt.
Der letzte Vortrag, der die Diskriminierung von Homosexualität in Japan thematisieren sollte, musste aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig ausfallen.
Das nächste, 37. Treffen der Initiative wird wieder in einem digitalen Format stattfinden. Zu gegebener Zeit wird der Termin bekanntgegeben. Das Treffen wird von Julia Beatrix Süße und Alexander Toby Wolf (beide FU Berlin) organisiert.
(Daniel Gerichhausen)
37. Treffen im Online-Format am 27. November 2021
Das 37. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 27. November 2021 in einem Online-Format statt und wurde von Julia Beatrix Süße und Alexander Toby Wolf (Freie Universität Berlin) organisiert.
Vorträge:
Christoph Reichenbächer (Nagakute): „Drei Tage Schönwetter auf dem Lande“ – Sumō-Ringer im ruralen Japan des frühen 19. Jahrhunderts
Christoph Reichenbächer diskutierte ein Kapitel seiner Doktorarbeit zum Thema Sumō-Ringen als Beispiel urbaner, professionalisierter Unterhaltungsformen und deren Ausbreitung im ruralen vormodernen Japan. Bei dieser kultur- und sozialhistorischen Untersuchung steht der Zeitraum zwischen 1770 und etwa 1890 im Mittelpunkt. Es geht darin um den Status der Ringer in einer sich wandelnden Umwelt sowie die Herausbildung eines Status-quo, der den Regeln der Regierenden Rechnung trug und dennoch eine freie Ausübung des Ringens ermöglichte. Dabei steht die Frage im Raum: Wer sorgte wie dafür, dass Ringer in Dörfer kamen, dort Geld verdienen und diese Tätigkeit regelmäßig wiederholen konnten?
Zuerst gab Christoph Reichenbächer einen Überblick über die Geschichte des Sumō in der Edo-Zeit. So gab es zu Beginn der Edo-Zeit noch drei Aufführungsarten des Sumō: (1) das sogenannte Benefizsumō für Schrein- und Tempelbauten, bei denen Ringer antraten, die dies im Nebenberuf ausübten, (2) Votivveranstaltungen, also Turniere bei Tempeln und Schreinen, die als Darbietungen für Gottheiten gedacht waren, und (3) Straßenturniere, die als Ad-hoc-Turniere stattfanden. Im Lauf des 17. Jahrhunderts wurden die Sumō-Turniere, was die Teilnehmenden und Aufführungsorte betrifft, verregelt und eingegrenzt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatten sich in japanischen Burgstädten und den drei Metropolen – Edo, Ōsaka und Kyōto – zahlreiche Gruppen etabliert, die Unterhaltung für die Bewohner gegen einen Obolus darboten. Im Geist der Zeit galt es den politisch Herrschenden aber als zu unsicher, professionalisierte Ringer in städtischen Gebieten anzusiedeln. Das Shogunat sorgte deshalb mit Edikten unter anderem für ein Monopol der Ringer aus Edo (1743). Ab den 1750er Jahren wurden Sumō-Turniere abgehalten, die regelmäßig auf Bühnen vor zahlendem Publikum stattfanden. Drei Jahrzehnte später erfolgte eine Eingrenzung der Tätigkeit auf umherreisende Professionelle (1773). Damit erhielt die Sumō-Gesellschaft eine Monopolstellung. Infolge dieser neuen rechtlichen Grundlage veränderten sich die entwickelten Trainingsgruppen grundlegend. Auf ihren Wegen zu den jährlich abgehaltenen Turnieren in den drei Metropolen reisten die Ringer nun durch die Regionen und waren angehalten, Einkommen durch gesonderte Vorführungen zu verdienen. Die bekannteste Quelle für diese Aktivität ist der Reisebericht des Raiden Tame’emon (1767–1828) „Notizbuch zu Sumō in allen Ländern“ (Sho-koku sumō hikaechō) aus den Jahren 1790 bis 1812. In der Kansai-Zeit Ende des 18. Jahrhunderts entstand der Rang des Yokozuna sowie Regeln zum Aufbau einer Sumō-Wettkampfstätte, die Tradition von Ringrichtern sowie eine selbstorganisierte Hierarchie der Sumō-Trainingsgruppen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde ein Lizenzsystem eingeführt, bei dem es drei Arten von Lizenzen gab: Lizenzen für die Form des Rings bzw. der Turnierform, Lizenzen für die teilnehmenden Ringer sowie Lizenzen für die lokale Organisation. Damit wurden Sumō-Turniere auf dem Land zu professionell organisierte Veranstaltungen. Unklar bleibt in den Aufzeichnungen zu den Regeln über die Veranstaltung von Turnieren neben der genauen Organisation der ruralen Sonderexhibitionen allerdings die Kontaktanbahnung der Reisenden mit örtlichen Sumō-Enthusiasten. Dieses so in der Edo-Zeit etablierte System verschwand nicht mit dem Beginn der Meiji-Zeit, aber es gab im Lauf der Zeit weitere Veränderungen in der Organisation der Sumō-Turniere und Regeländerungen.
In der Diskussion wurde dann die Frage nach einer nationalen Hierarchie der Sumō-Ringer gestellt. In der Vormoderne gab es noch kein Rankingsystem, wie es heutzutage genutzt wird, und in dem Auf- und Abstieg möglich sind. Die Frage danach, ob Samurai Ringer sein durften, wurde dahingehend beantwortet, dass Samurai sich als Ringer betätigen durften, aber dabei auf ihren hohen sozialen Status hätten verzichten müssen, was eine Karriere als Sumō-Ringer für sie relativ unattraktiv machte. Dem Sumō-Ringen ähnliche Wettbewerbe, wie z.B. Schwertduelle, gab es nicht.
Weiterhin wurde in der Diskussion geklärt, dass die Sumō-Älteren an den Lizenzen, die für das Ausrichten von Sumō-Turnieren vergeben wurden, verdienten, und einer der Gründe dafür war, dass das Shogunat nach und nach die Ausübung von Sumō als Aufführungskunst verregelte, dass die Regierenden damit eine Gruppe in der Bevölkerung kontrollieren wollten, von denen potentiell Gewalt ausgehen konnte.
Als abschließender Punkt wurde darüber diskutiert, inwieweit eine Untersuchung der Strukturen, in denen Sumō in der Edo-Zeit stattfinden konnte, etwas über die tatsächliche Ausübung des Sumō aussagen kann; denn die in der Arbeit genutzten Quellen über Strukturen sagen nicht zwingend etwas über Performanz aus. Es handelt sich hierbei um ein generelles Problem bei der Erforschung der Populärkultur in der Vormoderne, bei der Quellen zur Struktur gegenüber den Quellen über die tatsächliche Aufführungspraxis überwiegen. Sumō als populäre Unterhaltungsform nimmt im Kontext der Populärkultur allerdings insofern eine Sonderstellung ein, als dass hier nicht wie bei anderen Formen der Populärkultur das Phänomen vom Land in die Stadt getragen wurde, sondern sich das Sumō der Edo-Zeit in umgekehrter Richtung von der städtischen Kultur in die Fläche verbreitete.
Valentin Debler (Bonn): Schriftzeichenvarianten im Japan des 7. und 8. Jahrhunderts
Im zweiten Vortrag befasste sich Valentin Debler mit der Frage, wie es um das Schriftbild der japanischen Schriftzeichen in Japan in der Asuka- bzw. Nara-Zeit bestellt war. So ist man heutzutage daran gewöhnt, dass es wenigstens innerhalb eines der ostasiatischen Länder nur ein bis zwei Schriftzeichen als Standard gibt, die man für einen Begriff benutzt. Dieser Standard wird streng eingehalten und bereits ein Hinzufügen oder Weglassen eines Strichs wird als Fehler betrachtet. Aufgrund von zahlreichen Ausgrabungen historischer Artefakte in den letzten 50 bis 60 Jahren ist es jetzt möglich, das Schriftbild der Asuka- und Nara-Zeit zu untersuchen. Die häufigsten Objekte, auf denen Schrift zu sehen ist, sind die sogenannten mokkan (Holztäfelchen).
Durch diese Objekte, von denen bisher circa 55.000 durch das Nara Bunkazai Kenkyūsho (Forschungsinstitut für Kulturgüter in Nara) digitalisiert wurden, lässt sich mehr über die Entwicklung der Schrift in Japan und das damals verbreitete Schriftbild feststellen. Ganz offensichtlich hatten die Beamten eine höhere Toleranz gegenüber verschiedenen Schreibweisen eines Wortes. Die Methodik zur Bestimmung der Schriftzeichen-Variation wird von Imre Galambos übernommen, der diese anhand der chinesischen Zeichen zur Zeit der Streitenden Reiche (Guodian Manuskripte und Bündnisinschriften aus Houma) entwickelte. Dieser Ansatz soll auf drei der fünfzig häufigsten Wörter auf Holztäfelchen (aus der San‘in-Region) angewendet werden. Auf diese Weise können die Übertragbarkeit seines Ansatzes getestet und, falls möglich, vorkommende Varianten bestimmt werden.
Die drei zu analysierenden Wörter sind „Provinz“, „Bezirk“ und „Dorf“ und waren hauptsächlich auf Etiketten für Steuersendungen nötig, weshalb die drei genannten geografischen Begriffe sehr häufig vorkamen. Weiterhin soll der Frage nachgegangen werden, ob, wie in China, auch in Japan innerhalb einer einzigen Region (vielleicht selbst in einer einzigen Provinz), bereits verschiedene Varianten für die Darstellung dieser Wörter genutzt wurden, und ob es dennoch einen gewissen Standard gegeben haben mag. Daher wird zunächst nur eine Region (San‘in-Region), von der aus Steuern in die Hauptstadt geschickt wurden, untersucht.
Erste Auswertungen ergaben, dass es im untersuchten Korpus für das Wort „Provinz“ kein Beispiel für die heutige Schreibweise gibt. Vielmehr gibt es fünf Varianten, von denen drei ungefähr gleich häufig waren, zwei weitere Varianten hingegen selten genutzt wurden. Die am meisten genutzte Variante stimmt mit der heute als Langzeichen genutzten Variante überein (國).
In der Diskussion wurde dann erörtert, wie die Beamten in der Hauptstadt mit den verschiedenen Varianten umgingen. Dabei zeigt sich eine gewisse Präferenz für bestimmte Varianten in bestimmten Provinzen, aber die Frage danach, ob es sich bei den regionalen Varianten vielleicht um denselben Verfasser bei einer Variante handeln könne, kann nicht beantwortet werden, da sich die Namen der Verfasser nicht immer auf den mokkan finden. Generell war die Variantenanzahl und die allgemeine Toleranz für Andersschreibungen in der Asuka- und Nara-Zeit relativ hoch.
Bei der Frage nach der Wortauswahl wurde geklärt, dass es nicht sinnvoll ist, die wirklich häufigsten Wörter zu nehmen, da es sich hierbei um viele Alltagswörter handelt, die zu schlicht im Aufbau sind, als dass es viele Variationsmöglichkeiten gäbe. Die für die Untersuchung ausgewählten Wörter sind hingegen sowohl häufig als auch komplex genug, um sinnvoll mit Varianten zu operieren.
In der Diskussion über die Frage, welche Rolle Schriftzeichen spielten, die rein für ihren Lautwert eingesetzt wurden, wurde darauf verwiesen, dass dies eine andere Fragestellung sei, nämlich nach dem Gebrauch von Schriftzeichen und nicht nach der Schreibweise eines bestimmten Zeichens. Im Forschungsprojekt soll die Varianz der Schriftzeichen, nicht die Varianz in der Sprache, untersucht werden.
Hingewiesen wurde darauf, dass die Übersetzung „Dorf“ für sato für die Azuka- und Nara-Zeit ahistorisch ist, da man für die Zeit noch nicht von Dörfern im heutigen Wortsinn ausgehen kann und deshalb die abstrakte Bezeichnung „Verwaltungseinheit“ besser sein könnte. Auch ein Abgleich des Schriftgebrauchs in der Zentrale mit den aus den verschiedenen Provinzen stammenden mokkan wurde vorgeschlagen.
Estella Green (Bochum): „Westlicher als der Westen“ — Das Japanische Rote Kreuz (JRK) im Russisch-Japanischen Krieg 1904-05
Der Vortrag behandelte die Gründung, die Struktur und das Wachstum des JRK, um die Frage nach dem Einsatz des JRK während des Russisch-Japanischen Krieges und dessen westliche Rezeption zu behandeln. Die Gründung der Japanischen Rotkreuz-Gesellschaft 1887 ist in den Kontext der Meiji-Restauration und das Bestreben der japanischen Regierung, von westlichen Staaten als zivilisierte Nation anerkannt zu werden, einzuordnen. Der vom JRK vertretene Humanitarismus ist daher als außenpolitische Strategie zu verstehen. Dabei wurde Humanitarismus – anders als in der christlich geprägten Tradition des Westens – mit Patriotismus assoziiert. Andere Unterschiede zu westlichen humanitären Gesellschaften war die starke zentrale Steuerung des JRK sowie die vergleichsweise hohen Mitgliederzahlen in Japan. Schon im chinesisch-japanischen Krieg spielte das JRK eine wichtige Rolle, vor allem auch beim Rücktransport von Verwundeten auf Lazarettschiffen. Der russisch-japanische Krieg war der erste Krieg des 20. Jahrhunderts zwischen Großmächten, der dann auch noch medial zu verfolgen war. Das japanische Militär präsentierte sich in diesem Krieg als ein Kriegsteilnehmer, der sich ganz besonders an die Regeln hält, um damit zu zeigen, dass das Land Mitglied im Club der zivilisierten Nationen war.
Der Vortrag untersuchte westliche Quellen, die den Einsatz des JRK im Russisch-Japanischen Krieg kommentieren, um den Erfolg oder Misserfolg dieser Strategie bewerten zu können. Da der Russisch-Japanische Krieg nicht nur ein wichtiger internationaler Auftritt des japanischen Kaiserreiches war und daher für die Meiji-Regierung große außenpolitische Wichtigkeit mit sich brachte, sondern auch als erster großer Krieg des neuen Jahrhunderts ein Ereignis weltweiter Brisanz darstellte, hatte der Einsatz des JRK während dieses Konfliktes ein internationales Publikum. Aus den herangezogenen Quellen geht eine Bewunderung für das JRK hervor, welche westliche Schwestergesellschaften, allen voran das Britische und das US-amerikanische Rote Kreuz, dazu bewegte, ihre eigenen Organisationen anhand des japanischen Vorbildes zu reformieren. Da die Rotkreuz-Idee ursprünglich aus Europa übernommen worden war, kann diese Rückbeeinflussung als großer Erfolg im Sinne der Meiji-Regierung gesehen werden und dient als Beispiel für die Reziprozität transnationaler Prozesse.
In der Diskussion über die Stellung des JRK gegenüber dem japanischen Staat wurde vorgeschlagen, dies anhand der Untersuchung der Handlungsspielräume zu tun, die das JRK hatte. Auf diesem Wege ließen sich das Verhältnis von Staat und JRK sowie die gegenseitigen Abhängigkeiten näher beleuchten.
Diskutiert wurde auch der Aspekt des freiwilligen Einsatzes der JRK-Mitglieder, die, wenn gerufen, in der Regel keine Entscheidungsspielräume hatten. Dazu wurde allerdings angemerkt, dass die Mitgliedschaft sehr wohl freiwillig war, der Einsatz eines Mitglieds hingegen den Zielen der Organisation dienen musste und deshalb nach der freiwilligen Entscheidung für eine Mitgliedschaft nicht mehr optional sein konnte.
Zum Aspekt der im Vortrag erwähnten Dankbarkeit von russischer Seite über die Behandlung russischer Kriegsgefangener im Russisch-Japanischen Krieg wurde angezweifelt, dass die russische Regierung sich direkt der japanischen Regierung gegenüber erklärt habe. Dazu wurde angemerkt, dass es Spenden von russischer Seite an das JRK gab, was mit den Regierungen beider Seiten nichts zu tun hatte.
Stefanie Maja Kinder (München): Yanagi Muneyoshi als Kulturvermittler
Der letzte Vortrag stellte Yanagi Muneyoshi als Kulturvermittler vor. Der japanische Philosoph und Kunstkritiker Yanagi Muneyoshi (1889–1961) ist bekannt als Vater des mingei, der japanischen Volkskunst. Yanagi war ein Gründungsmitglied der Shirakaba-ha (1910–1923), einer Gruppe junger japanischer Literaten und Künstler, die ausgewählte europäische Literatur und Kunst — durch ihre gleichnamige Zeitschrift Shirakaba sowie Kunstausstellungen — in Japan vermittelten. Yanagi Muneyoshi beschäftigte sich ab dem Jahr 1914 zudem eingehend mit der koreanischen Volkskunst, besonders mit der Keramik der Joseon-Zeit (1392–1910). Für seine Erforschung und Sammlung der koreanischen Volkskunst reiste er ab dem Jahr 1916 mehrere Male nach Korea. Zusammen mit den Brüdern Asakawa Noritaka (1884–1964) und Takumi (1891–1931) sammelte er dabei unzählige Kulturgüter. Seine Forschung vermittelte Yanagi in Japan unter anderem durch seine Artikel in der Shirakaba.
Durch seine kritischen Schriften zur japanischen Kolonialregierung, als Reaktion auf die brutale Niederschlagung der Bewegung zum 1. März 1919 in Korea verfasst, kam Yanagi in direkten Kontakt mit jungen koreanischen Studenten in Japan. Durch diesen Austausch und sein Bemühen, möglichst viel der schnell verschwindenden koreanischen Kultur zu retten, beschlossen Yanagi und Asakawa Takumi im Jahr 1920, das Chōsen Minzoku Bijutsukan (1924) in Seoul zu gründen. Zwischen Yanagi, seiner in deutschem Gesang ausgebildeten Frau Kaneko, der Shirakaba-ha, den Asakawa-Brüdern sowie seinen koreanischen Freunden kam es in den folgenden Jahren durch mehrere Treffen, Vorträge und Konzerte zu einem lebendigen Kulturaustausch. Dieser Austausch ist ein wichtiger Aspekt in Yanagis Verbindung zu Korea und wirkte sich auch auf die Moderne Koreas ab dem Jahr 1920 aus. Besonders die Mitglieder der koreanischen Literaturgruppe Pyeho-pa standen in engem Kontakt mit Yanagi. Yanagis Tätigkeit hatte somit weitreichenden Einfluss in Japan und Korea, der bis heute anhält und in den letzten Jahren erneut Beachtung und Bewertung fand.
In der Diskussion wurde die Frage erörtert, ob Yanagi die koreanische Kunst im kolonialen Kontext als primitiv gesehen hat. Tatsächlich beschreibt er koreanische Kunst als „ursprünglicher“/naturverbundener, was allerdings nicht gleichzusetzen ist mit einer Klassifizierung dieser Kunst als primitiv. Yanagi schaute nicht herab auf koreanische Kunst und Kultur, schaute allerdings auch mit einem kolonialen Blick auf das Land, wodurch ein gewisser Paternalismus nicht zu leugnen ist. Das Wirken Yanagis sollte im Kontext der Shirakaba-ha gesehen werden, die stark sozialistische Tendenzen hatte und sich als ganze Gruppe dem Anarchismus verbunden fühlte sowie gegen Militarismus und Krieg eingestellt war.
(Anke Scherer)
38. Treffen im Online-Format am 03. & 04. Dezember 2022
Die 38. Tagung der „Initiative zur historischen Japanforschung“ fand am 03. und 04. Dezember 2022 online an der Freien Universität Berlin statt.
Protokoll zu Sonntag, den 04. Dezember 2022
09:00 – 10:15 Uhr: Nobuhiro Yanagihara (Tokyo): „Zwei Geschichten des Bombenkrieges. Eine Forschung über Japan und Deutschland“
Im ersten Vortrag des Sonntages referierte Nobuhiro Yanagihara über die Erinnerungskultur des Zweiten Weltkrieges anhand einer vergleichenden Perspektive von Denkmälern in Deutschland und Japan. Ziel seiner Forschung ist zum einen die angestrebte „Glokalisierung“, indem Erinnerungen durch Forschung und Betrachtung verschiedener Länder miteinander verglichen werden. Zum anderen soll die Entmythologisierung der zentralen Erinnerungen des Bombenkrieges erfolgen. Zentrale Städte und Orte stehen zwar symbolisch für jene Erinnerungen, jedoch geraten mittels fehlender Kontextualisierung andere Orte und Städte in den Hintergrund. Die zentrale Frage ist, wie sich Erinnerungen an einzelne, lokale Ereignisse bewahren lassen.
In dem im Vortrag herausgearbeiteten Vergleich zwischen Deutschland und Japan wurde ein unterschiedlicher Umgang mit den Ereignissen deutlich. In Japan erinnern vor allem Steindenkmäler im öffentlichen Raum, wie in Parks und Tempeln, an den Bombenkrieg aus einer reinen Opferperspektive. Im Vordergrund stehen die auf Japan abgeworfenen Atombomben. Der Bombenkrieg wird hierdurch jedoch marginalisiert. Weniger bekannt sind nationale Einrichtungen sowie öffentliche, jährlich stattfindende Trauerzeremonien. Eine Besonderheit stellt in Japan die symbolische Verwendung von Bäumen dar, die als Mahnmal der Bombardierung vor Ort gepflanzt wurden, sowie Animationsfilme zu dieser Thematik.
Im Gegensatz sind in Deutschland Denkmäler häufig christlich konnotiert und Mahnmale, wie die Flugwache in Berlin, national bekannt. Während es in beiden Ländern Denkmäler zu den Lynchmorden an Piloten der Bomberkommandos gibt, geht in Deutschland die Erinnerungskultur über direkte Kriegsbeteiligte hinaus und gedenkt ebenfalls Zwangsarbeitern, die zur Beseitigung von Blindgängern eingesetzt wurden. Die Städtepartnerschaft zwischen Hannover und Hiroshima verbindet die Erinnerung an den Bombenkrieg in Hannover, jedoch gibt es in Japan nichts Vergleichbares. Auch auf juristischer Ebene zeigt sich ein bedeutender Unterschied beider Länder: In Deutschland wurden Bombenopfer entschädigt, in Japan scheiterte eine Bewegung, die sich für die Entschädigung von Bombenopfern einsetzte. Für eine vertiefende Betrachtung der Zeitzeugen sowie Betrachtung der Forschungsliteratur blieb in diesem Vortag keine Zeit.
In der anschließenden Fragerunde wurde die Rolle des Universitätscampus der Tokyo Woman’s Christian University, der sich auf dem ehemaligen Gelände von Nakajima befindet, einem ehemaligen Rüstungsbetrieb für Kampfflugzeuge, eingehender thematisiert. Ein weiteres zentrales Thema war der Transformationsprozess individueller Kriegserfahrungen zu individuellen Erinnerungen bis hin zu kollektiven Erinnerungen.
10:30 – 11:45 Uhr: Judith Vitale (Zürich): „Das Mittelalter in der Kunst der Meiji-Zeit: Die ‚Bewegung zur Errichtung eines Denkmals für die Mongoleneinfälle‘“
Judith Vitale berichtete aus dem sechsten und letzten Kapitel eines langjährigen Projekts, das innerhalb der kommenden zwei Jahre veröffentlicht werden soll. Dessen zentrale Frage ist der Einfluss von Historikern auf die Geschichtskultur sowie die Mythenbildung am Beispiel der Mongoleneinfälle und die Bewegung um Yuchi Takeo (1847-1913). Im Mittelpunkt stehen dabei die im 19. Jahrhundert aufkommende Historienmalerei, Lieder, Architektur und schließlich das im Higashi-Park in Fukuoka errichtete Denkmal des Kameyama-Tennō (1249-1305).
In Jahr 1888 gründete Yuchi Takeo eine Bewegung zur Errichtung eines Denkmals mit Bezug zu den mongolischen Einfällen während des Mittelalters mit dem Ziel, die nationale Souveränität und patriotische Erziehung zu betonen. Hierfür nutzte er multimediale Wanderausstellungen, in denen er Ölgemälde, Broschüren und bewegte Bilder, die den Verlauf der Mongoleneinfälle darstellten, zeigte. Hinsichtlich des historischen Realismus der Gemälde zeigte Judith Vitale, dass diese auf konventionalisierten Darstellungsweisen der späten Edo-Zeit basierten. Diese „Illusion“ der Darstellung sei den Künstlern der Zeit bewusst gewesen, jedoch sei keine korrekte historische Wiedergabe, sondern eine ästhetische Darstellung beabsichtigt gewesen.
Aufgrund der mythischen Überhöhung des Mittelalters und besonders der Mongoleneinfälle wurden die Steine des Mongolenwalls, die diesem zwischenzeitlich für den Bau der Burg Fukuoka entnommen worden waren, dem Wall wieder hinzugefügt. In diesem Zusammenhang wandelte sich auch die ursprüngliche Idee des geplanten Denkmals zu einer symbolträchtigeren Form: Beispielsweise wurde anstatt der eigentlich geplanten militärischen Reiterstatue auf Shikanoshima kurz vor der finalen Umsetzung im Jahr 1904 die Errichtung eines Denkmals des Kameyama-Tennō im Higashi-Park beschlossen. Dieser habe laut Mythos die göttlichen Winde (kamikaze) zur Zerstörung der Mongolen herbeigerufen.
Die Historienmalerei stellte einen ideologischen Rahmen mit Schwerpunkt auf eine individuelle Verbesserung, den nationalen Fortschritt und den Patriotismus dar. Zudem zeigte sich, dass ideologische Elemente lokaler Bewegungen übernommen wurden. Die Gemälde, Lieder und Vorträge der Wanderausstellungen zur Spendensammlung fanden bei der Bevölkerung großen Anklang, weil bereits vorhandene Traditionen genutzt wurden.
In der Diskussionsrunde wurden Hinweise für weitere Literatur gegeben. Zudem wurde die Ausbildung der nationalen Identität diskutiert. Laut Judith Vitale ist wichtig hervorzuheben, dass Nationalismus ein modernes Konzept sei und sich die Frage stelle, welche Funktion die Geschichte der Vormoderne für den Nationalismus habe.
Des Weiteren wurde die Rolle des Mittelalters in der Meiji-Zeit diskutiert, da bei Judith Vitales Untersuchungen auffällig war, dass eine Rückbesinnung auf das Altertum abgelehnt wurde.
12:00 – 13:15 Uhr: Oleg Benesch (York): „Burgen, Ritter und Samurai: Globaler Mediävalismus und das moderne Japan“
Den dritten und letzten Vortrag am Sonntag hielt Oleg Benesch über die Entwicklung des „Mediävalismus“ in Japan des 19. und 20. Jahrhunderts, eingebettet in der Zeit des globalen Imperialismus und der Gründung von Nationalstaaten.
Im 19. Jahrhundert lebte im Westen das Mittelalter in einer idealisierten Mittelalterrezeption, d.h. losgelöst von historischen Ereignissen, auf und wurde neu interpretiert. So zeugten u.a. ritterliche Symbole und Burgen als Vorlage für moderne Architektur von Macht und Autorität. In Japan führte diese Rezeption des Mittelalters zu einem Zwiespalt, denn das feudale Japan wurde eigentlich als rückständig angesehen und seine Ästhetik demzufolge abgelehnt. Dennoch gründeten die Briten, ein Vorbild der militärischen Stärke des Westens, ihre Macht auf dem Rittertum. Die Iwakura-Mission (1871-1873), begeistert von europäischen und besonders britischen mittelalterlichen Relikten, beeinflusste beispielsweise den innerjapanischen Diskurs insoweit, dass einige japanische Burgen vor der Zerstörung bewahrt wurden, und entwickelte die Idee der Gründung eines Militärmuseums, das die großen militärischen Taten Japans darstellen sollte. Ab den 1890er Jahren wurde der Samurai zum Vorbild im Prozess der nationalen Identitätsbildung und wurde zum Sinnbild der Aufopferung und des Patriotismus. Während aber die feudale Vergangenheit schrittweise akzeptiert und später japanische Burgen und Samurai als den westlichen überlegen angesehen wurden, blieb das Mittelalter sowie auch dessen Epochengliederung umstritten.
Der Mediävalismus, d.h. die Mittelalterrezeption, diente den Menschen dazu, die Ursprünge ihrer nationalen Identität zu finden. Nicht zu unterschätzen ist in dieser Findungsphase auch die rückwirkende Beeinflussung der japanischen Rezeption auf die britische bzw. westliche Mittelalterrezeption. Darüber hinaus sind regional und national unterschiedliche Rezeptionsmuster zu beachten. Zur weiteren Erforschung des Mediävalismus erhofft sich Oleg Benesch eine verstärkt globale Erforschung des Phänomens.
An den Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an, in deren Verlauf u.a. der Mediävalismus in China diskutiert und viele Literaturhinweise zur Rezeption des Mittelalters gegeben wurden. Eine Diskussion bezüglich der Rezeption von Altertum und Mittelalter in Japan fand ebenfalls statt. Darüber hinaus wurde die positive Rezeption des bushidō in zeitgenössischen militärischen Debatten in Europa thematisiert.
Zum Abschluss wurde angekündigt, dass die Tagung im kommenden Jahr ihr 20. Jubiläum feiert. Unklar ist bisher, ob die Tagung erneut online, hybrid oder vor Ort stattfinden wird.
Zum Ende der Tagung wurde nach der Stellung der Geschichtswissenschaft gefragt. Wenngleich die Geisteswissenschaften generell nicht wie die MINT-Fächer finanziell gefördert werden und die Relevanz der Geschichte im wissenschaftlichen Kontext sinke, sei gleichzeitig festzustellen, dass die Anzahl der Studierenden gleichbliebe. Es sei jedoch eine Verschiebung des Schwerpunkts auf Zeitgeschichte zu beobachten. Eine Fortsetzung der Diskussion wurde für die kommende Tagung vorgeschlagen.
Melina Wache
39. Treffen im Online-Format am 21. Oktober 2023
Das 39. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 21. Oktober 2023 in einem Online-Format statt und wurde von Julia Beatrix Süße, Tino Schölz und Maik Hendrik Sprotte (Freie Universität Berlin) organisiert.
Vorträge:
Kawakita Atsuko (Tōkyō): Die japanische Erinnerungslandschaft. Umgang mit negativen Vergangenheiten
Im ersten Vortrag „Die japanische Erinnerungslandschaft. Umgang mit negativen Vergangenheiten“ thematisierte Kawakita Atsuko die unterschiedliche Wahrnehmung von Kriegen vor Beginn des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu modernen Kriegen, insbesondere zum Asiatisch-Pazifischen Krieg in Japan. Dabei wurde die Bildung des Bewusstseins eines „schmutzigen Kriegs“ sowie das Verhältnis dieses Bewusstseins zur japanischen Erinnerungskultur herausgearbeitet. In der Vorkriegszeit wurde Kriegstoten und Kriegshelden unterschiedlich gedacht. Obwohl während des Zweiten Weltkriegs über Heldentaten an der japanischen Front berichtet wurde, herrscht über die Verehrung von Kriegstoten nach 1945 kein Konsens. So werden in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg keine Helden erinnert, und darüber hinaus gilt er als „schmutziger Krieg“, da das Kriegsvölkerrecht systematisch durch Japan gebrochen wurde. Diese Verbrechen wurden nach 1952 durch Zeitzeugen wie ehemalige Soldaten oder Mitglieder der China Returnees Liaison Association thematisiert und bezeugt. Dieser offene Umgang wurde insbesondere durch die fehlende Strafverfolgung von Kriegsverbrechen durch japanische Behörden möglich. Obwohl jedoch die Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs in Japan weithin bekannt sind, dominiert im Land eine Erinnerungskultur, die sich fast ausschließlich auf das Leid an der Heimatfront bezieht und die Ereignisse in Übersee weitgehend ausblendet.
Die anschließende Diskussion befasste sich mit der Frage, warum Kriegsverbrechen heute in Museen und Ausstellungen kaum dargestellt werden und inwieweit sich dies mit einem Opferbewusstsein (higaisha ishiki) und Schamgefühl in Japan begründen lässt. Eine mögliche Erklärung, warum beispielsweise im Friedensmuseum Hiroshima (Heiwa kinen shiryōkan) die Kriegsverbrechen nicht Teil der Ausstellung sind, ist die Ausrichtung der Museen auf die Friedenserhaltung und – in diesem konkreten Falle – einem Gedenken an die Atombombenopfer. In diesem Zusammenhang wurde gefragt, ob man bei der Forschung in Japan auf Schwierigkeiten oder sogar Widerstand stoße. Dies gebe es zwar insbesondere bei zeitgenössischem militärischem Material, auf das man nur schwer Zugriff erhielte, aber Anfeindungen bei der Forschung seien selten und wurden zumindest seitens der Referentin nicht erfahren. Weiterhin wurden die gemeinsam von Korea, Japan und China herausgegebenen, als ergänzende Unterrichtsmaterialien konzipierten Geschichtslehrwerke diskutiert. Den Anstoß dafür habe die gemeinsame deutsch-polnische Schulbuchkommission gegeben. Die aktuelle politische Situation erschwere zwar das Schreiben eines gemeinsamen Geschichtsschulbuchs durch die drei asiatischen Länder stark, aber bereits herausgegebene Lehrwerke zeigen, dass die Zusammenarbeit zwischen Historikern in Ostasien wohl möglich und sinnvoll sei. Zuletzt wurde der Terminus „Krieg ohne Helden“ diskutiert. Für die Gegenwart träfe dieser Begriff zu, aber bis in die 1980er Jahre wurden Kriegshelden in der japanischen Gesellschaft durchaus verehrt. Eine auch heutzutage intensiv stattfindende Diskussion über die Heldenverehrung in der Öffentlichkeit wirke sich auch auf die Gedenklandschaft aus und führe zu einer Spaltung derselben.
David M. Malitz (Tōkyō): Die derzeitigen Thronfolgekrisen in Japan und Thailand und deren Wurzeln in der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts
Im nächsten Vortrag „Die derzeitigen Thronfolgekrisen in Japan und Thailand und deren Wurzeln in der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts“ widmete sich David M. Malitz den Ursachen der gegenwärtigen Thronfolgekrisen in Japan und Thailand (bis 1939 Siam). Nach einer Darstellung der aktuellen Thronfolgesituation sowie der Schilderung der rechtlichen Voraussetzungen für die Thronfolge in beiden Ländern wurden anhand der historischen Entwicklungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Ursachen der gegenwärtigen Krisen dargestellt. Drei grundlegende Gemeinsamkeiten beider Monarchien bis ins frühe 19. Jahrhundert bildeten dabei den Ausgangspunkt für die nachfolgenden Reformen: So gab es weder festgelegte Thronfolgeregeln noch eine Verwandtschaft mit anderen Königs- oder Kaiserhäusern, und durch die Polygamie der Herrscher wurden genügend mögliche Thronfolger geboren. Mit dem Umbruch in die Moderne änderte sich dies. Mit dem „Gesetz über den kaiserlichen Haushalt“ (Kōshitsu tenpan) von 1889 wurde die Thronfolge in Japan klar festgesetzt. Ein ähnliches Gesetz wurde 1924 auch in Siam mit Blick auf Japan verabschiedet. Ebenso verhielt es sich mit dem sukzessiven Übergang zur Monogamie. Beide Reformen reduzierten jedoch den thronfolgeberechtigten Nachwuchs stark und führten somit maßgeblich zu den aktuellen Thronfolgekrisen. Auch die Kürzung der Zahl der Nebenlinien des Kaiserhauses in Japan sowie die generationsweise Herabstufung der Nachkommen des thailändischen Königs zu Bürgerlichen nach dem Zweiten Weltkrieg verschärften diese Situation. Ein großer Unterschied zwischen dem aktuellen Japan und Thailand liegt in der rechtmäßigen Thronfolge, die per thailändischem Gesetz von 1974 auch durch eine Prinzessin angetreten werden kann. In Japan ist dies nicht der Fall.
In der Diskussion wurde nach den Gründen für die Widerstände gegen eine Reform der japanischen Thronfolge gefragt. Das Ausschließen einer weiblichen Thronfolge könne in der nach wie vor in rechten bzw. konservativen Kreisen vorherrschenden Ideologie der ungebrochenen Herrscherlinie des Kaiserhauses (bansei ikkei) wurzeln. Interessant ist, dass die heutigen Debatten denen im Japan des frühen 20. Jahrhunderts sehr ähneln. Ein weiterer Grund wurde im preußischen Vorbild für das „Gesetz über den kaiserlichen Haushalt“ gesehen: In Preußen gab es kein Wahlrecht für Frauen und dies wurde, angepasst an die Regelungen zur Thronfolge, von Japan übernommen. Da bei der Schaffung des Gesetzes europäische Verfassungstexte und Hausgesetze als Vorbild dienten, sei dies durchaus denkbar. Auch die Unverletzlichkeit des Tennō stammt aus der europäischen Verfassungstradition und wurde auf Japan übertragen. Zuletzt wurde auf die Frage der methodischen Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Thailand und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg eingegangen. Für eine weiterführende, vergleichende Forschung sollten Kriterien festgelegt werden, die sich insbesondere auf die Rolle der Monarchien für die nationale Identität beider Länder sowie die Funktion der Monarchien in beiden Gesellschaften beziehen.
Imai Hiromasa (Fukuoka): Ein kleines Deutsches Reich in Japan. Deutsche Kriegsgefangene in Fukuoka/Kurume im Ersten Weltkrieg
Im anschließenden Beitrag „Ein kleines Deutsches Reich in Japan. Deutsche Kriegsgefangene in Fukuoka/Kurume im Ersten Weltkrieg“ sprach Imai Hiromasa über das erste Kriegsgefangenenlager Kurume in Fukuoka, das als eines von 17 während des Ersten Weltkriegs errichteten Lagern in Japan vorrangig dazu diente, gefangengenommene deutsche Soldaten unterzubringen. Als Lager mit den meisten Gefangenen und aufgrund seiner schlechten Lebensbedingungen wurde es auch „Japanisches KZ“ genannt. Dieses und andere Kriegsgefangenenlager dieser Zeit werden häufig unter dem Aspekt der „deutsch-japanischen Freundschaft“ untersucht, jedoch sei dieser Ansatz unzureichend, um die Konflikte zu verstehen, mit denen sich das japanische Militär in den Lagern konfrontiert sah. Ein wichtiger Ansatz bei der Untersuchung des Lagers ist die geografische Lage: Bei der Belagerung von Tsingtau fielen circa 1.000 japanische Soldaten, die mehrheitlich aus Kyūshū stammten und demzufolge die deutschen Soldaten in dem in Fukuoka (Kyūshū) gelegenen Kriegsgefangenlager tendenziell eher schlecht behandelten. Der stetige Ausbau des Lagers trug ebenfalls zum Hass gegen die Gefangenen bei. Dennoch fand ein Austausch zwischen den deutschen Soldaten und der japanischen Bevölkerung statt, beispielsweise durch Auftritte des Kriegsgefangenenorchesters. Neben dem eben genannten Faktor kann auch der Führungseben des Lagers eine wichtige Rolle bei der Verschärfung von lagerinternen Konflikten zugeschrieben werden. Oberleutnant Mazaki Jinsaburō (1876–1956) führte als Leiter des Lagers von Mai 1915 bis November 1916 ein strenges Kontroll- und Bestrafungssystem ein, welches die Konflikte zwischen der Führungsebene und den Gefangenen verschärfte. Mazaki befürchtete durch die Anwesenheit von Gefangenen aus anderen Ländern, wie beispielsweise Polen, die Bildung eine „kleinen Deutschen Reiches“ in seinem Lager und versuchte, dem entgegenzuwirken. Zusammenfassend muss bei der Erforschung des Lagers das komplexe Zusammenspiel von Imperialismus, Rassismus und Militarismus sowie von ethnischen Fragen innerhalb des Deutschen Reiches stärker als bisher beachtet werden.
In der anschließenden Diskussion wurde als weiteres Beispiel das Kriegsgefangenenlager in Narashino erwähnt, welches zwar ebenfalls wie das Kriegsgefangenenlager Bandō als „Vorzeigelager“ galt, sich aber in der Realität ähnlichen Schwierigkeiten wie das Lager in Kurume ausgesetzt sah. Im Anschluss wurde der innerrassistische Diskurs im Gefangenenlager zwischen Preußen und Polen diskutiert. In diesem Zusammenhang wurde die Frage gestellt, ob es sich bewusst um eine Strategie der japanischen militärischen Führung zur Spaltung der Deutschen im Lager gehandelt habe, den strengen Mazaki mit der Leitung des Lagers zu betrauen. Da es sich bei dem Gefangenenlager in Kurume um das erste Kriegsgefangenenlager in Japan handelte und somit auf keine bestehende Verwaltungserfahrung zurückgegriffen werden konnte, wurde dies verneint. Der Konflikt zwischen polnischen und deutschen Soldaten hätte seinen Ursprung in europäischen ethnischen Auseinandersetzungen. In diesem Zusammenhang werden in der zukünftigen Forschung die vorhandenen Quellen unter dem Blickpunkt von Mazakis Einstellung zu Preußen, zum Konzept der Gefangenschaft und zur Bestrafung von Soldaten untersucht. Dabei sollten auch die rechtlichen Bedingungen der Bestrafung sowie das Verhältnis der Bestrafung von japanischen und deutschen Soldaten betrachtet werden.
Detlev Taranczewski (Bonn): In schwerem Fahrwasser. Selbstbestimmung und politische Teilhabe in Japans Mittelalter
Im vierten Vortrag skizzierte Detlev Taranczewski explorativ unter dem Titel „In schwerem Fahrwasser. Selbstbestimmung und politische Teilhabe in Japans Mittelalter“ Ideen zu einer langfristigen Analyse zweier Kernelemente von Demokratie vor, nämlich der „Selbstbestimmung“ und der „politischen Teilhabe“, und diskutierte deren Bedeutung in der vormodernen Geschichte. Die Metapher „schweres Fahrwasser“ bezieht sich dabei auf die mannigfaltigen Widerstände gegen die Verwirklichung der beiden genannten politisch-sozialen Grundbedürfnisse der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft. Diese Widerstände erwuchsen jedoch nicht nur aus Konflikten in der „Vertikalen“, also zwischen statusmäßig Beherrschten und Herrschenden, sondern auch aus horizontalen Konflikten, also unter Angehörigen der Beherrschten. Im Zentrum der Betrachtungen stand die „lokale Gesellschaft“, die Gemeinden, Verbünde von Gemeinden oder auch Landschaften, also Konglomerate aus Verbünden, umfasst. In die Untersuchung einbezogen wurden dabei nicht nur begriffsgeschichtliche Methoden, sondern auch sozialstrukturelle, institutionelle und mentalitäts¬geschichtliche Entwicklungen, die sich jedoch meist schwieriger erschließen lassen. Einen wichtigen Ausgangspunkt für dieses Projekt sind historische Untersuchungen zu diesem Thema, insbesondere Abhandlungen zur „Demokratie“, beispielsweise von Miura Hiroyuki und Amino Yoshihiko. Auch der Ethnologe Bronisław Malinowski formulierte einen wichtigen Zugang zu diesem Themenkomplex.
In der Diskussion wurde die Loslösung von der Institutionen- und der damit verbundenen Begriffsgeschichte diskutiert. Stattdessen sei es wissenschaftlich bereichernder, gezielt nach sozialen und lokalen politischen Strukturen zu suchen und diese als Ausgangspunkt für die Analyse zu nehmen. Weiterhin wurde die Suche nach neuen Interpretationsspielräumen in der Forschung thematisiert: Beispielsweise erfolgte, in Anknüpfung an die Arbeiten Aminos, in den 1990er Jahren eine Umdeutung der Edo-Zeit als feudal-absolutistische Epoche, in der die Freiheit des Mittelalters verloren gegangen sei. Eine gegensätzliche Meinung vertrat unter anderem Katsumata Shizuo, der in dieser Zeit wiederum die Gründung moderner gesellschaftlicher und selbstverwaltender Strukturen sah. Einen weiteren Diskussionspunkt bildete der Vergleich der vorgestellten Ideensammlung mit modernen europäischen politischen Theorien, deren Grundlage der patriarchalische Haushalt darstellt. Dies lasse sich auch auf Japan übertragen, wobei es auch einige Ausnahmen gab: In Fischerdörfern auf Honshū gab es Frauen als Haushaltsvorstände und sie arbeiteten zugleich als Fischerinnen. Auch Amino habe diese Freiheit im weiblichen Geschlecht verkörpert gesehen. Zuletzt wurde der Wandel von Begriffen ab der frühen Meiji-Zeit thematisiert. Dieser deute auf eine Differenzerfahrung hin und zeige, dass bereits vorhandene Begriffe nicht mehr ausreichten, um neue politisch-soziale Gegebenheiten zu beschreiben. Ein Bruch zur Edo-Zeit sei deutlich sichtbar, jedoch müssten bei der Erforschung der Begriffsgeschichte neben geschlechts- auch schicht- und statusspezifische Ausprägungen beachtet werden.
Julia Beatrix Süße (Berlin): Die Formung eines adeligen Habitus an der Gakushū-in. Eine Analyse von Lehrplänen und Schulordnungen der Jahre 1877–1893
Julia Beatrix Süße stellte in ihrem Vortrag ihre sozialgeschichtliche Masterarbeit über „Die Formung eines adeligen Habitus an der Gakushū-in – Eine Analyse von Lehrplänen und Schulordnungen der Jahre 1877–1893“ vor. Als wichtigster Ort der Erziehung der Söhne und Töchter des Adels und der Kaiserfamilie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Augenmerk auf die Funktion und Sonderstellung der Gakushū-in („Schule für den Adel“) gelegt, indem anhand von ausgewählten Lehrplänen und Schulordnungen die Formung eines adeligen Habitus aufgezeigt wurde. Dabei ging sie insbesondere der Frage nach, welche Geschlechtsspezifik bei Jungen und Mädchen zu beobachten ist und wie dadurch das adelige Selbstverständnis geprägt wurde. Dafür wurden der Sportunterricht, chinesische und japanische Einflüsse im Gegensatz zu westlichen Einflüssen sowie ausgewählte geschlechtsspezifische Fächer und geschlechtsübergreifende Fächer als den adeligen Habitus formende Instanzen herausgearbeitet. Über die grundlegende Formung des Habitus hinaus betonte sie zudem die Veränderung eines geschlechtsspezifischen Habitus im angegebenen Zeitraum. Dabei wurde deutlich, dass Jungen und Mädchen nach Eröffnung der Schule im Jahr 1877 zunächst nach fast identischen Lehrplänen unterrichtet wurden, sich jedoch vor allem ab Mitte der 1880er Jahre zeigte, dass die Jungen nun primär zum Verteidiger des Landes sowie als „Bollwerk“ des Kaiserhauses, und die Mädchen gemäß des Ideals der „guten Hausfrau, weisen Mutter“ (ryōsai kenbo) zur Haushaltsführung und dem Gebären von Kindern erzogen wurden. Diese Differenzierung wurde durch die physische Trennung des Unterrichts mit der Eröffnung der Kazoku jogakkō („Mädchenschule für den Adel“) auf einem separaten Campus im Jahr 1885 verstärkt. Dennoch finden sich auch zu dieser Zeit viele Gemeinsamkeiten in den Lehrplänen, beispielsweise im Mathematik‑, Kalligraphie- und Moralkundeunterricht. Zur Erforschung des Themas wurde die Theorie des Habitus nach Pierre Bourdieu (1930–2002) herangezogen.
In der Diskussion wurde das adelige Elitenbewusstsein besprochen, welches als Herausbildung eines „Gefühls“ zwar schwierig nachzuweisen sei, aber von interviewten ehemaligen Schülern und Schülerinnen der Gakushū-in ausführlich beschrieben worden sei. Forciert wurde dieses Bewusstsein hauptsächlich durch die Vergabe von Adelsrängen mit der Proklamation des kazoku-rei („Adelsgesetz“) 1884, wonach an der Gakushū-in das Tragen verschiedenfarbiger Tücher für den jeweiligen Rang eingeführt wurde. Neben der Erziehung und Bildung innerhalb der Schule für den Adel war auch die Ausbildung der Jungen und Mädchen insbesondere in den schönen (und traditionellen) Künsten wie Teezeremonie und Ikebana sowie in westlichen wie japanischen Sportarten durch die Familie besonders wichtig. Auch dies wirkte auf den adeligen Habitus ein. Auch die Koedukation mit nicht-adeligen Kindern prägte den adeligen und geschlechtsspezifischen Habitus. Daran anknüpfend wurde auch über die allgemeine Geschlechtertrennung im Bildungswesen und die Alphabetisierung der japanischen Bevölkerung diskutiert. Zudem wurden Nachfragen zum Inhalt der Lehrmaterialien gestellt, die jedoch aufgrund des eingeschränkten Rahmens der Masterarbeit nur teilweise beantwortet werden konnten.
Alice Witt (Heidelberg): Darstellungen von Widerstand im Alltag an der Heimatfront des Zweiten Weltkriegs in Japan
Im sechsten Vortrag „Darstellungen von Widerstand im Alltag an der Heimatfront des Zweiten Weltkriegs in Japan“ stellte Alice Witt ihre Masterarbeit vor, in der sie sich mit der Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigte. Dabei konzentrierte sie sich auf die Frage, inwiefern es Formen des Widerstands gegen den Krieg im Alltag in der breiten Bevölkerung gab. Zu diesem Zweck untersuchte sie circa 100 Zuschriften von Personen an die Zeitung Asahi shinbun aus den Jahren 1986/87, in welchen Erlebnisse von Zeitzeugen aus dem Zeitraum 1937–1945 geschildert werden. Diese Beiträge wurden in drei verschiedene Formen des Widerstands eingeordnet – „lauten“, „leisen“ und „stillen“ Widerstand. „Lauter“ Widerstand wird als aktiver Widerstand, der sich in direktem (wenn auch häufig anonymen) Protest gegen die Obrigkeit äußerte, definiert. Diese Art Widerstand war immer mit Bestrafung durch staatliche Instanzen und meist mit polizeilicher Verfolgung verbunden. Der „leise“ Widerstand umfasst kritische Äußerungen, etwa im engen Familien- und Freundeskreis. Im Gegensatz dazu lässt sich der „stille“ Widerstand verorten, der sich nur gedanklich äußerte. Auffällig an der Betrachtung der Zuschriften ist die Heterogenität, die sich unter anderem in unterschiedlichen Altersstufen, beruflichen Hintergründen und sozialer Schichtzugehörigkeit zeigt. Zudem wird zwischen Darstellungen von Widerstand durch die Beiträger selbst und Fremdbeschreibungen unterschieden: Die Selbstdarstellung enthält häufig Relativierungen und bleibt der Interpretation durch die Leserschaft offen, wohingegen Fremdbeschreibungen deutlich den Widerstand anderer Personen aufzeigen. Gemein ist allen Beiträgern, dass sie sich nicht als Opfer, sondern als aktiv handelnd betrachten.
Die Diskussion schloss sich an Alice Witts Nachbemerkung an, dass sie in ihrer künftigen Forschung einen größeren Fokus auf die Definition von Widerstand legen möchte. Ein möglicher Anknüpfungspunkt ist die Betrachtung von zeitgenössischen Materialien. Auch wenn es noch keine Widerstandsgeschichte bezüglich des Zweiten Weltkriegs in Japan gebe, sei die Betrachtung von unterschiedlichem Quellenmaterial aus den 1930er und 1940er Jahren sicherlich erkenntnisreich. Auch Debatten, ob es überhaupt einen Widerstand in Japan zu dieser Zeit gegeben hätte, seien eine gute Grundlage für eine Vertiefung des Themas. Diese Erkenntnisse könnten wiederum mit den Ergebnissen aus der Masterarbeit verglichen werden. Als weiterer Betrachtungspunkt könnten methodische und theoretische Angebote der Erinnerungsforschung, insbesondere die Bedingungsanalyse, herangezogen werden, da die Beiträge 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfasst wurden. Zuletzt wurde die Beeinflussung der Beiträger durch Widerstandsformen aus anderen Kriegen oder internationale Bezüge zur Debatte gestellt. In den untersuchten Beiträgen werden keine anderen (internationalen) Bewegungen oder Widerstände erwähnt, aber auch dies kann in der zukünftigen Forschung Beachtung finden.
Juljan E. Biontino (Chiba): Ostasien im neuen Geschichtsunterricht an japanischen Oberschulen seit 2022
Im letzten Vortrag mit dem Titel „Ostasien im neuen Geschichtsunterricht an japanischen Oberschulen seit 2022“ widmete sich Juljan E. Biontino einer neuen Form des Geschichtsunterrichts, die seit April 2022 an japanischen Oberschulen unterrichtet wird. Mit der Einführung des einjährigen Pflichtkurses „Rekishi sōgō“ versucht das japanische Bildungsministerium, den bisher auf Auswendiglernen basierenden Unterricht für Schüler interessanter und gewinnbringender zu gestalten. Der Kurs verbindet das Fach „Japanische Geschichte“ (ehemals Nihonshi) und das generell unbeliebte Fach „Weltgeschichte“ (ehemals sekaishi) miteinander, beschränkt aber die Unterrichtsmaterialien auf die moderne und zeitgenössische Geschichte. Dabei steht die Schulung von Fähigkeiten wie dem historischen Denken sowie der Urteils- und Ausdruckskraft neben der Vermittlung von Inhalten durch schülerzentrierte und fragegesteuerte Methoden im Vordergrund. Zudem werden ab dem zweiten Oberschuljahr seit April 2023 Wahlkurse zur Vertiefung angeboten. Unterstützt wird die Einführung von 26 neuen Lehrbüchern. Der neue Geschichtsunterricht stellt jedoch nicht nur die Lernenden, sondern auch die Schulen, Nachhilfeschulen (juku) und Lehrkräfte gleichermaßen vor neue Herausforderungen und Eltern vor neue Ängste, da sich an den Aufnahmeprüfungen für die Universitäten nichts ändern wird. Zudem müssen sich auch Universitäten den neuen Lehrplänen stellen und ihre allgemeine Einteilung in die orientalische, westliche und japanische Geschichte überdenken. Problematisch in diesem Kontext ist außerdem, dass die neuen Geschichtsbücher keine Aufarbeitung der historischen Beziehungen, insbesondere vor und während des Zweiten Weltkriegs, zwischen Korea, China und Japan beinhalten. Der Ansatz, japanische Schüler zum „Nachdenken“ und „Reflektieren“ auszubilden, stößt hier an eine Grenze. Auch die Tatsache, dass erst ab 1945 eine globalgeschichtliche Tendenz auszumachen ist, stellt einen Kritikpunkt an der Reform dar.
In der Diskussion wurden hauptsächlich die Auswirkungen der Umstellung des Geschichtsunterrichts auf das Curriculum an den Universitäten diskutiert. An einigen Hochschuleinrichtungen fand bzw. findet die Anpassung des Geschichtsstudiums an die neuen Vorgaben bereits statt, beispielsweise an der Präfekturuniversität Aichi (Aichi kenritsu daigaku), deren Geschichtsstudium ab dem Frühling 2024 als rekishigaku (anstatt Nihon shigaku) belegt werden kann. Eine Anpassung der übergreifenden Zulassungsprüfungen der Universitäten findet jedoch nicht statt. Die Prüfungen fragen weiterhin nur das Wissen ab und lassen in ihrer Multiple-Choice-Struktur keinen Platz für die Anwendung der eigenen Kenntnisse, werden jedoch an einigen Universitäten zum Teil auf den neuen Unterricht an den Oberschulen angepasst. Inwieweit die Veränderung des Geschichtsunterrichts eine Schwierigkeit für Lehrer darstellt, möchte Juljan E. Biontino im weiteren Schritt durch Interviews und die gezielte Teilnahme am Unterricht untersuchen. Vertiefend könnte auch die didaktische Vereinbarkeit des Unterrichts mit neuen Medien, wie beispielsweise Videospielen, Manga und Anime, betrachtet werden.
Abschlussdiskussion
Zum Abschluss wurde im Plenum diskutiert, ob die nächste Tagung der Initiative erneut online oder in Präsenz stattfinden soll. Dabei wurde vorgeschlagen, die Tagung im abwechselnden Turnus in Präsenz und online auszurichten, und sich somit zwei Mal im Jahr zu treffen. Insbesondere Teilnehmer, die zumeist aufgrund der geographischen Distanz nicht in Präsenz teilnehmen können, hätten dadurch die Möglichkeit, zumindest einmal im Jahr mit dabei zu sein. Für das Online-Format spräche zudem, dass die Organisation weniger Aufwand und Kosten erfordert. Jedoch sei die Teilnahme an Diskussionen vergleichsweise niedrigschwellig, dies sei in Präsenz anders. Eine Tagung in Präsenz hätte zudem den Vorteil, Wissenschaftler von anderen Lehrstühlen und aus anderen Instituten kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Insbesondere für Studenten wäre dies eine wertvolle Gelegenheit, sich mit Kommilitonen anderer Japanologien bzw. anderer Fachbereiche zu vernetzen. Weiterhin wurde der Vorschlag, die Tagung hybrid durchzuführen, positiv aufgenommen, jedoch wurden Zweifel zur technischen Umsetzung angemeldet, da hybride Veranstaltungen ein höheres Maß an technischer Betreuung voraussetzen. Die Diskussion um das Format wird bei der nächsten Tagung noch einmal aufgegriffen.
Die nächste Tagung der Initiative zur historischen Japanforschung findet in Präsenz an der Abteilung für Japanologie und Koreanistik im Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn statt. Organisiert wird die Tagung von Daniel Gerichhausen und Tomohide Itō.
(Julia Süße & Tino Schölz)
40. Treffen an der Universität Bonn vom 15. & 16. Juni 2024
Das 40. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 15. und 16. Juni 2024 in Präsenz an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn statt und wurde von Daniel Gerichhausen und Tomohide Itō organisiert.
Vorträge:
Christian Werner (Bonn): What Can We Not Know about Hōjō Masako? Prolegomena zu einer Personengeschichte als Problemgeschichte
Im ersten Vortrag der Tagung stellte Christian Werner sein Forschungsvorhaben einer Darstellung Hōjō Masakos (1157–1225) in Auseinandersetzung mit Theorien „weiblicher Herrschaft“ (queenship) und einer kritischen Reflexion von Forschungsstand und ‑geschichte vor. Hiermit verfolgt er das Ziel, einen Beitrag zum Verständnis des Kamakura-Bakufu im Westen mit transkultureller Anschlussfähigkeit zu leisten.
Der Vortragstitel verweist zugleich auf die der Arbeit zugrundeliegende Metafrage nach der (Un-)Möglichkeit historischer Biographik und spielt auf die von dem Historiker Jeffrey P. Mass gestellte Frage „What Can We Not Know about the Kamakura Bakufu?“ an, wobei sich Christian Werner im Gegensatz zu Mass nicht mit der Funktionsweise des Bakufu, sondern mit der Stellung, Funktion und Bewertung von Frauen in monarchischen Herrschaftsformen beschäftigt. Das hierbei herangezogene, bereits eingangs erwähnte Konzept queenship wurde von der bisherigen Forschung noch nicht in Bezug auf Japan angewandt.
Eine erste Antwort auf die im Vortragstitel aufgeworfene Frage stellt dabei bereits der Name Masakos dar: Diesen erhielt sie erst im Jahre 1218 durch den Kaiserhof und auch der Name „Hōjō“ stellt einen Anachronismus dar, da er erst später, nach Masakos Tod, weithin benutzt wurde.
Es wird angenommen, dass Masako, nachdem sie nicht nur ihren Ehemann Minamoto no Yoritomo, sondern auch ihre vier Kinder, zu denen auch der zweite und dritte Shōgun Yoriie und Sanetomo gehörten, überlebt hatte, die letzten Jahre bis zu ihrem Tod selbst herrschte, was eine Diskussion über eine Erweiterung der Herrscherfolge auslöste. Masakos eigener Tod wird in ihrer Überlieferung und Sinnzuschreibung (historia rerum gestarum) in dem ihr zugeschriebenen Titel ama shōgun 尼将軍 als Ende einer Ära monumentalisiert.
In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion wurde unter anderem bestätigt, dass sich Christian Werners Reinterpretation des Azuma Kagami – eine der wichtigsten Quellen für seine Arbeit – durch das Gegenlesen verschiedener Texthierarchien, die er im Laufe des Vortrags an für ihn relevanten Einträgen exemplifiziert hatte, im Sinne des Angebots einer neuen Leseart tendenziell auch auf das gesamte Werk anwenden lässt. Ferner wurde die Möglichkeit diskutiert, ob Masako nicht in der Moderne eine Neubewertung, etwa in Geschichts- und Erziehungswissenschaften, erfahren haben könnte, wo sie, im Zuge der Auseinandersetzung mit westlichen Mächten, als „Quotenfrau“ für starke Frauenfiguren in der Geschichte fungiert haben könnte.
Julia Mariko Jacoby (Essen): Commons im Wandel. Ressourcenmanagement in Japan in der Edo- und Meiji-Zeit
Im zweiten Vortrag am Samstag stellte Julia Mariko Jacoby ihr Projekt zur Wirtschaftsform der Commons – der gemeinsamen Nutzung und Verwaltung von Gebieten und Ressourcen – vor, welches sie zu ihrer Habilitation auszubauen gedenkt. Mit diesem sucht sie das in populären Darstellungen verbreitet gezeichnete, idealisierte Bild der Edo-Zeit als „Öko-Gesellschaft“, welche erst mit dem Einzug der westlich geprägten Moderne einen Umbruch von einer nachhaltigen hin zu einer ausbeuterischen Ressourcennutzung erfuhr, zu widerlegen. Hierzu sollen fünf Fallstudien in longue durée die Resilienz der Wirtschaftsform der Commons gegen den Wandel in Umwelt und Wirtschaft aufzeigen, der sich insbesondere in den zwei Transformationsphasen um 1700 und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifestierte. Erstere war durch Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, die Erschließung neuer Felder und einen Einstrom neokonfuzianischer Bildungswerke aus China, die aufgrund der hohen Alphabetisierung auch auf dem Land breit rezipiert wurden, geprägt. Letztere bedeutete Japans Eintritt in die Weltwirtschaft, der unter anderem mit der Industrialisierung durch die Übernahme von Wissen und Technologie aus dem Westen verbunden war.
Da es bei der Wirtschaftsform der Commons in der Regel zu einer Überlagerung unterschiedlicher Ressourcengefüge kommt, entstehen gemäß dem Konzept der Affordanz, demzufolge ein Gegenstand oder Gebiet auf unterschiedliche, zusammenspielende oder auch sich widersprechende Weisen genutzt werden kann, wodurch Konfliktpotenzial entsteht, Ressourcenkonflikte, in denen das Management neu ausgehandelt wird. In diese können neben den Commoners – den beteiligten Nutzern der Commons – selbst, auch andere Akteure wie das Shōgunat oder Tempel und Schreine eingebunden sein. Einigungen wurden meist durch einen Austausch von Rechten gegen Dienstleistungen erzielt. Diese Ressourcenkonflikte stehen im Zentrum der Analyse, wobei sich konkrete Fragen zum einen auf die Strategien, mithilfe derer die Commoners durch diese beiden Transformationsphasen navigierten, und zum anderen auf die Rolle des sich wandelnden Wissens zu wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenhängen in diesen Konflikten richten.
In der Diskussion wurde unter anderem auf die Rolle der Genossenschaften hingewiesen, welche sich im Kontext der Ressourcenkonflikte nicht selten als hartnäckiger, wenn nicht gar unumgehbarer Faktor erwiesen. Als veranschaulichendes Beispiel wurde ein Konflikt um die Ressourcennutzung eines Flusses in der Nähe Kyōtos angeführt. Diese hätte zwar mit modernen Techniken effektiver gestaltet werden können, doch da unklar war, inwieweit dabei die Räume kleinerer Akteure berücksichtigt würden, wurde die Nutzung moderner Techniken unterbunden. Ferner wurde gefragt, ob die neu übernommene Technologie auch als Ressource betrachtet wurde, welches Konzept von Ressourcen die Commoners hatten, und ob sich dieses Konzept im Laufe der zwei Transformationsphasen änderte.
Benjamin Schmidt (Bonn): Konfliktlösung in der ländlichen Gesellschaft im Übergang zur Frühen Neuzeit. Forschungsvorhaben einer mikrohistorischen Untersuchung des Dorfes Ōsone im 17. Jahrhundert
Im dritten Vortrag am Samstag stellte Benjamin Schmidt das Forschungsvorhaben im Rahmen seiner Masterarbeit zur Konfliktlösung in der ländlichen Gesellschaft im Übergang zur Frühen Neuzeit vor. Damit fügt sich sein Vorhaben in die unter anderem von Fujiki Hisashi ausgehende Übergangszeitforschung ein, welche eine Gegenbewegung zu einer scharfen Trennung durch Epochengrenzen darstellt. Da das hier aufgeworfene Problemfeld der lokalen Konfliktlösung im Übergang zur frühen Neuzeit zwar bereits gut, aber noch nicht erschöpfend behandelt wurde, sollen drei, bisher noch unzureichend bearbeitete Ansatzpunkte für weitere Forschung durch Benjamin Schmidts Arbeit abgedeckt werden. So lenkt er durch eine mikrohistorische Untersuchung des im Norden der Kantō-Region liegenden Dorfes Ōsone (heute Teil von Tsukuba in der Präfektur Ibaraki) den Blick auf eine Region außerhalb Zentraljapans und auf die Entwicklungen der späten Übergangszeit im 17. Jahrhundert. Um dabei die Vielfalt an Institutionen und Praktiken lokaler Konfliktregulierungen, die nicht immer klar getrennt werden können, zu berücksichtigen, greift er auf das Konzept der „Infrajustiz“ zurück.
Bedeutende Quellen, vornehmlich der dörflichen, aber auch der obrigkeitlichen Verwaltung, stellen Dokumente der Familie Nemoto dar, welche in der Edo-Zeit eine leitende Funktion innehatte. Die hier beschriebenen Konflikte kategorisiert Benjamin Schmidt nach Konfliktarten und ‑gegenständen in Konflikte zwischen der Obrigkeit und den Dorfbewohnern, inner‑, über- und zwischendörfliche Konflikte. Ein Beispiel für die letztgenannte Kategorie stellt ein Konflikt, der zwischen den Dörfern Ōsone, Ōda und dessen Zweigdorf Ōta ausgehandelt wurde, dar. Die dabei ersichtlich werdende Rolle der Nachbardörfer bei der Beteiligung an Konflikten wurde bereits von Fujiki Hisashi hervorgehoben. Auslöser des Konflikts war die unzulässige Ressourcennutzung durch einen Dorfbewohner Ōtas, der nach seiner Verhaftung durch einen Wächter aus Ōsone dem Territorialherrn gemeldet zu werden drohte. Daraufhin suchten die Dorfbewohner in einem Tempel in Ōda Schutz, was eine weitverbreitete Praxis bei ländlichen Konflikten darstellte. Dank der durch den Tempel erbetenen Vermittlung des Dorfvorstehers von Ōda konnte letztlich eine interne Einigung erzielt werden.
In der Diskussion wurde in Anknüpfung an dieses Beispiel bemerkt, dass der Täter eigentlich von den Obrigkeiten geschützt wurde, da diese dafür sorgten, dass sein Vergehen nicht gemeldet wurde. Obwohl die Beziehung Ōdas zu Ōta als dessen Zweigdorf für Spannungen sorgte, wurde es durch die Mediation des Tempels möglich, dass Ōda hier dennoch als Stammdorf seine Schutzfunktion einnahm. Ferner wurde angemerkt, dass es interessant sein könnte, über die Kategorisierung von Konfliktarten und ‑gegenständen hinaus einzelne Eskalationsstufen, zuzüglich der jeweils erforderlichen Maßnahmen, zu analysieren.
Anke Scherer (Bochum): Tondenhei. Die Erfindung des japanischen Pioniers
Den letzten Programmpunkt am Samstag bildete der Vortrag Anke Scherers zur Entwicklung und Bedeutung der sogenannten tondenhei – Wehrbauern, die während der Meiji-Zeit eine zentrale Rolle in der Besiedlung und Erschließung Hokkaidōs spielten. Diese Wehrbauern wurden eingesetzt, um die nördlichen Gebiete Japans zu kultivieren und zu verteidigen, was sie in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem neuen Typus von japanischen Helden machte, der besonders in der imperialistischen Phase Japans mächtig wurde und die Vorstellungen von der Expansion Japans, insbesondere in die Mandschurei in den 1930er Jahren, prägte.
Der Wandel in der Wahrnehmung und Verwaltung der Landesgrenzen infolge der Öffnung Japans Mitte des 19. Jahrhunderts schuf die Grundlage für die Entstehung des von Kuroda Kiyotaka initiierten tondenhei-Systems. Dieses sollte zusätzlich zur Kombination militärischer und landwirtschaftlicher Aufgaben auch soziale Probleme entschärfen, indem es ehemaligen Samurai eine neue Lebensgrundlage bot. Da viele Samurai jedoch fürchteten, ihren privilegierten Status zu verlieren, war die Umsiedlung oft erzwungen und stieß auf wenig Begeisterung. Zudem führte die mangelnde Erfahrung der Siedler, gerade angesichts der schwierigen klimatischen Bedingungen auf Hokkaidō, dazu, dass die im Programm gesetzten Ziele trotz staatlicher Unterstützung oft nicht erreicht wurden. So machten die tondenhei bis 1904 lediglich 3,5% der Gesamtbevölkerung Hokkaidōs aus und ihr Beitrag sowohl zur wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Entwicklung als auch zur Verteidigung gegen eine russische Invasion war marginal. Stattdessen erfolgte die tatsächliche Besiedlung Hokkaidōs überwiegend durch private Siedlungsgemeinschaften. Neben Sträflingen aus einem auf Hokkaidō errichteten Gefängnissystem waren es diese normalen Siedler, welche die Infrastruktur aufbauten und die landwirtschaftliche Entwicklung der Insel vorantrieben.
Die Realität des geringen materiellen Erfolgs und Einflusses des Programms steht in starker Diskrepanz zur großen ideologischen Bedeutung der tondenhei. Sie wurden im kollektiven Gedächtnis Japans als heroische, grenzüberschreitende Pioniere verewigt, die den „Frontier Spirit“ verkörperten. Diese Bedeutung spiegelt sich etwa in dem „Dekret für tondenhei und ihre Familien“ von 1890 wider, das moralische und militärische Verhaltensregeln festlegte, aber auch in der fortwährenden Pflege ihres Erbes durch Museen und Historikerinnen und Historiker.
In der an den Vortrag anschließenden Diskussion kam unter anderem die Frage auf, ob es bevorzugte Herkunftsgegenden für die Aufnahme in das tondenhei-Programm gab. Anfangs wurden bevorzugt Menschen aus der Tōhoku-Region aufgenommen, da man diesen bereits Erfahrungen mit einem ähnlich rauen Klima wie auf Hokkaidō unterstellte. Die schlechte Annahme des Programms führte aber nicht selten dazu, dass einfach jeder, der sich für das Programm meldete, unabhängig von geografischer oder standesmäßiger Herkunft in das Programm aufgenommen wurde. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass es relevant sein könnte, auch die Frage, wie die tondenhei in der Populärkultur, dem Mediensystem und der Literatur dargestellt und behandelt wurden, in die Analyse einzubeziehen.
Christoph Völker (München): Reisen als kulturelle Erfahrung. Okakura Kakuzō und seine Europareise von 1887
Im ersten Vortrag am Sonntag stellte Christoph Völker seine Forschungsarbeit zu Okakura Kakuzōs Europareise im Jahr 1887 vor. Diese stellte eine staatliche Gesandtschaftsreise im Auftrag des japanischen Kultusministeriums dar. Da es sich dabei um die erste Auslandsreise von Okakura handelte, kam ihr eine besondere Bedeutung für sein Denken und Werk zu, welches sich durchweg kulturellen Fragen widmete. Okakuras Auftrag sah vor, unter anderem durch die Besichtigung von Kunstmuseen, Akademien und weiteren Institutionen Informationen im Hinblick auf die Frage zu sammeln, wie man die Kunst in Japan modernisieren solle. Dafür begutachtete er auch zahlreiche Werke der europäischen Kunst und formulierte schließlich eigene kunsttheoretische Überlegungen. Über seine beruflichen Verpflichtungen hinaus gelang es Okakura, sich aus eigenem Interesse mit der Kunst und Kultur der von ihm bereisten Länder zu beschäftigen und persönliche Kontakte zu knüpfen, was sein Europabild stark beeinflusste.
Durch die Untersuchung der Reise als kulturelle Erfahrung verfolgt Christoph Völker das Ziel, eine neue Perspektive auf die Person Okakura und seine Reise zu ermöglichen. Dabei richtet sich sein Interesse insbesondere auf die Frage nach der Art und Weise, wie Okakura Kultur erlebte und wie er diese zu verstehen versuchte. Exemplarische Ausschnitte aus Okakuras Reisetagebuch und seinen Briefen zeigen, dass er sich Fremdes intensiv und selbstständig, etwa durch den Bezug zur eigenen Kultur, erschlossen hat.
Im Anschluss an den Vortrag entspann sich unter anderem eine Diskussion über die Trennung von Okakuras offizieller und privater Beschäftigung mit Kultur während der Reise. Auch kam die Frage auf, ob Okakura auf seiner Reise den Japonismus wahrnahm und ob er diesen ablehnte. Zumindest Ersteres wird zwar angesichts der Zeit, zu der Okakura Europa bereiste, mit Sicherheit der Fall gewesen sein, jedoch beschränken sich Okakuras schriftlich festgehaltene Äußerungen diesbezüglich nur auf kürzere Bemerkungen zur europäischen Mode.
Chantal Weber (Köln): Anna Berliner. Biographie im Spannungsfeld der deutsch-japanischen Beziehungen von 1914–1934
Als zweiten Programmpunkt am Sonntag stellte Chantal Weber ihr aktuelles Forschungsprojekt, die Rekonstruktion der Biographie von Anna Berliner (1888–1977), vor, welche von der bisherigen Forschung nur in Teilen bearbeitet wurde. Als zwei Leitfragen fungieren dabei Berliners akademische Stellung und ihre Identität als jüdische Frau.
Bedingt durch welthistorische Ereignisse war Anna Berliner immer wieder dazu gezwungen, ihren Wohnort zu wechseln – häufig über nationale und kontinentale Grenzen hinweg. Eine erste Verbindung zu Japan stellte Wilhelm Wundt dar, welcher sich mit Japan beschäftigte und als Zweitgutachter ihrer 1913 eingereichten Promotion im Fach Psychologie fungierte. Im selben Jahr trat sie ihren ersten Japan-Aufenthalt (1913–1915) an, woran sich nach fünf Jahren, welche sie in den USA verbrachte, ein zweiter Aufenthalt (1920–1925) anschloss. Überschneidungen von Personenkreisen legen hier nahe, dass ihr wahrscheinlich insbesondere die Freundschaft zu Nitobe Inazō mehrere Kontakte zur intellektuellen und akademischen Gesellschaft der Taishō-Zeit eröffnete, welche ihr zu den vielfältigen und prominenten Stellen verhalfen, die sie während ihres zweiten Japanaufenthaltes bekleidete. In dieser Zeit erlernte sie auch den Tee-Weg, über welchen sie im Jahr 1930 das erste deutschsprachige Buch veröffentlichte. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1925 eröffnete sie gemeinsam mit ihrem Mann die OAG-Geschäftsstelle in Leipzig, wo sie ab dem Jahr 1929 bis zur Verlegung der Geschäftsstelle nach Hamburg im Jahr 1934 als offizielle Repräsentantin fungierte. Der Holocaust, in dessen Zuge unter anderem ihre Mutter und ihre jüngere Schwester deportiert und ermordet wurden, zwang sie im Jahr 1938 ein letztes Mal ihren Wohnort zu wechseln und in die USA zu gehen, wo sie 1977 ermordet wurde.
Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion sind unter anderem dem Umstand geschuldet, dass Berliner keine eigenen Lebensbeschreibungen hinterlassen hat und ihre Besitztümer in Deutschland von der Gestapo beschlagnahmt wurden. Daher beschränken sich verfügbare Quellen bisher überwiegend auf das wenige vorhandene Archivmaterial der Pacific University in Oregon, wo sie zuletzt (1949–1962) als Professorin arbeitete, sowie auf Dokumente über und von dritten Personen.
Die von Chantal Weber geäußerte Hoffnung, über das Trautz-Archiv der Universität Bonn eventuell auf weitere relevante Quellen zu stoßen, konnte im Anschluss an den Vortrag durch vielversprechende Hinweise von Seiten mehrerer in das Forschungsprojekt involvierter Personen aus dem Auditorium gestärkt werden. Ferner kam die Frage auf, warum Berliner nach ihrer Rückkehr nach Deutschland ausgerechnet nach Leipzig gekommen sei. Denkbare Gründe wären hier, dass Leipzig zu jener Zeit einen wirtschaftlich interessanten Standort darstellte, an dem sie zudem bereits während ihrer Studienzeit gewohnt hatte.
Michael Albert (Bonn): Zwischen Diplomatie und Weltrevolution. Der „Lenin“-Zwischenfall als Spiegel der frühen japanisch-sowjetischen Beziehungen
Im letzten Vortrag der Tagung stellte Michael Albert sein Forschungsprojekt vor, in welchem er das Zustandekommen und die Auswirkungen des sogenannten „Lenin“-Zwischenfalls untersucht. Die in Reaktion auf das Große Kantō-Erdbeben veranlassten Hilfsmaßnahmen der Sowjetunion umfassten neben Spendensammlungen auch die Entsendung des mit Hilfsgütern beladenen Dampfers „Lenin“. Nachdem dieser am 12. September 1923 in Yokohama angekommen war, schürte das provokante Verhalten der Schiffscrew auf japanischer Seite die bereits im Vorfeld durch Gerüchte verbreitete Furcht vor kommunistischer Propaganda, weshalb der Dampfer schließlich ein Entladeverbot erhielt und unverrichteter Dinge zurückkehren musste. Diese Entwicklung kam für die sowjetische Regierung vollkommen unerwartet und löste auf Seiten beider Staaten die Sorge vor einer Zerstörung der bisherigen Fortschritte in der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen aus, die sich letztlich jedoch nicht bewahrheitete.
Die für den Zwischenfall maßgeblich verantwortliche Fehlkommunikation ist dabei aber nicht erst auf internationaler Ebene, sondern bereits innerhalb der Sowjetunion zu verorten. Diese befand sich in einem inneren Widerspruch zwischen dem Ziel einer Weltrevolution und der Notwendigkeit, normale diplomatische Beziehungen mit kapitalistischen Staaten zu unterhalten. Auch Japan befand sich in einem Dilemma zwischen den wirtschaftlichen Vorteilen einer diplomatischen Partnerschaft mit der Sowjetunion und einer konsequenten Ablehnung des Kommunismus. Da die Hilfsmission der „Lenin“ auch als Beitrag zur erst kurz zuvor begonnenen diplomatischen Annäherung an Japan konzipiert und dementsprechend als von der sowjetischen Regierung ausgehend angekündigt worden war, konnte in diesem Fall nicht auf die bezüglich solcher Konflikte bewährte Verfahrensweise einer Auslagerung potenziell heikler internationaler Aktionen auf die Komintern zurückgegriffen werden, was den „Lenin“-Zwischenfall zu einer typischen Ausnahme macht.
In der Diskussionsrunde wurde im Hinblick auf den Vortragstitel darauf hingewiesen, dass es sich bei Diplomatie eher um ein Mittel, bei der Weltrevolution allerdings eher um einen Zweck handelt. Darauf beruht der Vorschlag, stattdessen von einem diplomatischen und einem weltrevolutionären Ansatz zu sprechen. Auch wurde die Bedeutung der problematischen wirtschaftlichen Situation, in welcher sich die Sowjetunion zur Zeit des Zwischenfalls infolge des Bürgerkriegs selbst befand, diskutiert. Die Bedeutung der Tatsache, dass die Sowjetunion dennoch Hilfsmaßnahmen ergriff, musste jedoch teilweise relativiert werden, da die entsprechenden Ressourcen in der Sowjetunion nicht knapp waren. Durchaus denkbar ist allerdings, dass auch wirtschaftliche Faktoren dazu beigetragen haben könnten, den Zwischenfall eher herunterzuspielen als aufzubauschen.
(Vienna Lynn Baginski)