Das 40. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 15. und 16. Juni 2024 in Präsenz an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn statt und wurde von Daniel Gerichhausen und Tomohide Itō organisiert.
Vorträge:
Christian Werner (Bonn): What Can We Not Know about Hōjō Masako? Prolegomena zu einer Personengeschichte als Problemgeschichte
Im ersten Vortrag der Tagung stellte Christian Werner sein Forschungsvorhaben einer Darstellung Hōjō Masakos (1157–1225) in Auseinandersetzung mit Theorien „weiblicher Herrschaft“ (queenship) und einer kritischen Reflexion von Forschungsstand und ‑geschichte vor. Hiermit verfolgt er das Ziel, einen Beitrag zum Verständnis des Kamakura-Bakufu im Westen mit transkultureller Anschlussfähigkeit zu leisten.
Der Vortragstitel verweist zugleich auf die der Arbeit zugrundeliegende Metafrage nach der (Un-)Möglichkeit historischer Biographik und spielt auf die von dem Historiker Jeffrey P. Mass gestellte Frage „What Can We Not Know about the Kamakura Bakufu?“ an, wobei sich Christian Werner im Gegensatz zu Mass nicht mit der Funktionsweise des Bakufu, sondern mit der Stellung, Funktion und Bewertung von Frauen in monarchischen Herrschaftsformen beschäftigt. Das hierbei herangezogene, bereits eingangs erwähnte Konzept queenship wurde von der bisherigen Forschung noch nicht in Bezug auf Japan angewandt.
Eine erste Antwort auf die im Vortragstitel aufgeworfene Frage stellt dabei bereits der Name Masakos dar: Diesen erhielt sie erst im Jahre 1218 durch den Kaiserhof und auch der Name „Hōjō“ stellt einen Anachronismus dar, da er erst später, nach Masakos Tod, weithin benutzt wurde.
Es wird angenommen, dass Masako, nachdem sie nicht nur ihren Ehemann Minamoto no Yoritomo, sondern auch ihre vier Kinder, zu denen auch der zweite und dritte Shōgun Yoriie und Sanetomo gehörten, überlebt hatte, die letzten Jahre bis zu ihrem Tod selbst herrschte, was eine Diskussion über eine Erweiterung der Herrscherfolge auslöste. Masakos eigener Tod wird in ihrer Überlieferung und Sinnzuschreibung (historia rerum gestarum) in dem ihr zugeschriebenen Titel ama shōgun 尼将軍 als Ende einer Ära monumentalisiert.
In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion wurde unter anderem bestätigt, dass sich Christian Werners Reinterpretation des Azuma Kagami – eine der wichtigsten Quellen für seine Arbeit – durch das Gegenlesen verschiedener Texthierarchien, die er im Laufe des Vortrags an für ihn relevanten Einträgen exemplifiziert hatte, im Sinne des Angebots einer neuen Leseart tendenziell auch auf das gesamte Werk anwenden lässt. Ferner wurde die Möglichkeit diskutiert, ob Masako nicht in der Moderne eine Neubewertung, etwa in Geschichts- und Erziehungswissenschaften, erfahren haben könnte, wo sie, im Zuge der Auseinandersetzung mit westlichen Mächten, als „Quotenfrau“ für starke Frauenfiguren in der Geschichte fungiert haben könnte.
Julia Mariko Jacoby (Essen): Commons im Wandel. Ressourcenmanagement in Japan in der Edo- und Meiji-Zeit
Im zweiten Vortrag am Samstag stellte Julia Mariko Jacoby ihr Projekt zur Wirtschaftsform der Commons – der gemeinsamen Nutzung und Verwaltung von Gebieten und Ressourcen – vor, welches sie zu ihrer Habilitation auszubauen gedenkt. Mit diesem sucht sie das in populären Darstellungen verbreitet gezeichnete, idealisierte Bild der Edo-Zeit als „Öko-Gesellschaft“, welche erst mit dem Einzug der westlich geprägten Moderne einen Umbruch von einer nachhaltigen hin zu einer ausbeuterischen Ressourcennutzung erfuhr, zu widerlegen. Hierzu sollen fünf Fallstudien in longue durée die Resilienz der Wirtschaftsform der Commons gegen den Wandel in Umwelt und Wirtschaft aufzeigen, der sich insbesondere in den zwei Transformationsphasen um 1700 und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts manifestierte. Erstere war durch Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, die Erschließung neuer Felder und einen Einstrom neokonfuzianischer Bildungswerke aus China, die aufgrund der hohen Alphabetisierung auch auf dem Land breit rezipiert wurden, geprägt. Letztere bedeutete Japans Eintritt in die Weltwirtschaft, der unter anderem mit der Industrialisierung durch die Übernahme von Wissen und Technologie aus dem Westen verbunden war.
Da es bei der Wirtschaftsform der Commons in der Regel zu einer Überlagerung unterschiedlicher Ressourcengefüge kommt, entstehen gemäß dem Konzept der Affordanz, demzufolge ein Gegenstand oder Gebiet auf unterschiedliche, zusammenspielende oder auch sich widersprechende Weisen genutzt werden kann, wodurch Konfliktpotenzial entsteht, Ressourcenkonflikte, in denen das Management neu ausgehandelt wird. In diese können neben den Commoners – den beteiligten Nutzern der Commons – selbst, auch andere Akteure wie das Shōgunat oder Tempel und Schreine eingebunden sein. Einigungen wurden meist durch einen Austausch von Rechten gegen Dienstleistungen erzielt. Diese Ressourcenkonflikte stehen im Zentrum der Analyse, wobei sich konkrete Fragen zum einen auf die Strategien, mithilfe derer die Commoners durch diese beiden Transformationsphasen navigierten, und zum anderen auf die Rolle des sich wandelnden Wissens zu wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenhängen in diesen Konflikten richten.
In der Diskussion wurde unter anderem auf die Rolle der Genossenschaften hingewiesen, welche sich im Kontext der Ressourcenkonflikte nicht selten als hartnäckiger, wenn nicht gar unumgehbarer Faktor erwiesen. Als veranschaulichendes Beispiel wurde ein Konflikt um die Ressourcennutzung eines Flusses in der Nähe Kyōtos angeführt. Diese hätte zwar mit modernen Techniken effektiver gestaltet werden können, doch da unklar war, inwieweit dabei die Räume kleinerer Akteure berücksichtigt würden, wurde die Nutzung moderner Techniken unterbunden. Ferner wurde gefragt, ob die neu übernommene Technologie auch als Ressource betrachtet wurde, welches Konzept von Ressourcen die Commoners hatten, und ob sich dieses Konzept im Laufe der zwei Transformationsphasen änderte.
Benjamin Schmidt (Bonn): Konfliktlösung in der ländlichen Gesellschaft im Übergang zur Frühen Neuzeit. Forschungsvorhaben einer mikrohistorischen Untersuchung des Dorfes Ōsone im 17. Jahrhundert
Im dritten Vortrag am Samstag stellte Benjamin Schmidt das Forschungsvorhaben im Rahmen seiner Masterarbeit zur Konfliktlösung in der ländlichen Gesellschaft im Übergang zur Frühen Neuzeit vor. Damit fügt sich sein Vorhaben in die unter anderem von Fujiki Hisashi ausgehende Übergangszeitforschung ein, welche eine Gegenbewegung zu einer scharfen Trennung durch Epochengrenzen darstellt. Da das hier aufgeworfene Problemfeld der lokalen Konfliktlösung im Übergang zur frühen Neuzeit zwar bereits gut, aber noch nicht erschöpfend behandelt wurde, sollen drei, bisher noch unzureichend bearbeitete Ansatzpunkte für weitere Forschung durch Benjamin Schmidts Arbeit abgedeckt werden. So lenkt er durch eine mikrohistorische Untersuchung des im Norden der Kantō-Region liegenden Dorfes Ōsone (heute Teil von Tsukuba in der Präfektur Ibaraki) den Blick auf eine Region außerhalb Zentraljapans und auf die Entwicklungen der späten Übergangszeit im 17. Jahrhundert. Um dabei die Vielfalt an Institutionen und Praktiken lokaler Konfliktregulierungen, die nicht immer klar getrennt werden können, zu berücksichtigen, greift er auf das Konzept der „Infrajustiz“ zurück.
Bedeutende Quellen, vornehmlich der dörflichen, aber auch der obrigkeitlichen Verwaltung, stellen Dokumente der Familie Nemoto dar, welche in der Edo-Zeit eine leitende Funktion innehatte. Die hier beschriebenen Konflikte kategorisiert Benjamin Schmidt nach Konfliktarten und ‑gegenständen in Konflikte zwischen der Obrigkeit und den Dorfbewohnern, inner‑, über- und zwischendörfliche Konflikte. Ein Beispiel für die letztgenannte Kategorie stellt ein Konflikt, der zwischen den Dörfern Ōsone, Ōda und dessen Zweigdorf Ōta ausgehandelt wurde, dar. Die dabei ersichtlich werdende Rolle der Nachbardörfer bei der Beteiligung an Konflikten wurde bereits von Fujiki Hisashi hervorgehoben. Auslöser des Konflikts war die unzulässige Ressourcennutzung durch einen Dorfbewohner Ōtas, der nach seiner Verhaftung durch einen Wächter aus Ōsone dem Territorialherrn gemeldet zu werden drohte. Daraufhin suchten die Dorfbewohner in einem Tempel in Ōda Schutz, was eine weitverbreitete Praxis bei ländlichen Konflikten darstellte. Dank der durch den Tempel erbetenen Vermittlung des Dorfvorstehers von Ōda konnte letztlich eine interne Einigung erzielt werden.
In der Diskussion wurde in Anknüpfung an dieses Beispiel bemerkt, dass der Täter eigentlich von den Obrigkeiten geschützt wurde, da diese dafür sorgten, dass sein Vergehen nicht gemeldet wurde. Obwohl die Beziehung Ōdas zu Ōta als dessen Zweigdorf für Spannungen sorgte, wurde es durch die Mediation des Tempels möglich, dass Ōda hier dennoch als Stammdorf seine Schutzfunktion einnahm. Ferner wurde angemerkt, dass es interessant sein könnte, über die Kategorisierung von Konfliktarten und ‑gegenständen hinaus einzelne Eskalationsstufen, zuzüglich der jeweils erforderlichen Maßnahmen, zu analysieren.
Anke Scherer (Bochum): Tondenhei. Die Erfindung des japanischen Pioniers
Den letzten Programmpunkt am Samstag bildete der Vortrag Anke Scherers zur Entwicklung und Bedeutung der sogenannten tondenhei – Wehrbauern, die während der Meiji-Zeit eine zentrale Rolle in der Besiedlung und Erschließung Hokkaidōs spielten. Diese Wehrbauern wurden eingesetzt, um die nördlichen Gebiete Japans zu kultivieren und zu verteidigen, was sie in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem neuen Typus von japanischen Helden machte, der besonders in der imperialistischen Phase Japans mächtig wurde und die Vorstellungen von der Expansion Japans, insbesondere in die Mandschurei in den 1930er Jahren, prägte.
Der Wandel in der Wahrnehmung und Verwaltung der Landesgrenzen infolge der Öffnung Japans Mitte des 19. Jahrhunderts schuf die Grundlage für die Entstehung des von Kuroda Kiyotaka initiierten tondenhei-Systems. Dieses sollte zusätzlich zur Kombination militärischer und landwirtschaftlicher Aufgaben auch soziale Probleme entschärfen, indem es ehemaligen Samurai eine neue Lebensgrundlage bot. Da viele Samurai jedoch fürchteten, ihren privilegierten Status zu verlieren, war die Umsiedlung oft erzwungen und stieß auf wenig Begeisterung. Zudem führte die mangelnde Erfahrung der Siedler, gerade angesichts der schwierigen klimatischen Bedingungen auf Hokkaidō, dazu, dass die im Programm gesetzten Ziele trotz staatlicher Unterstützung oft nicht erreicht wurden. So machten die tondenhei bis 1904 lediglich 3,5% der Gesamtbevölkerung Hokkaidōs aus und ihr Beitrag sowohl zur wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Entwicklung als auch zur Verteidigung gegen eine russische Invasion war marginal. Stattdessen erfolgte die tatsächliche Besiedlung Hokkaidōs überwiegend durch private Siedlungsgemeinschaften. Neben Sträflingen aus einem auf Hokkaidō errichteten Gefängnissystem waren es diese normalen Siedler, welche die Infrastruktur aufbauten und die landwirtschaftliche Entwicklung der Insel vorantrieben.
Die Realität des geringen materiellen Erfolgs und Einflusses des Programms steht in starker Diskrepanz zur großen ideologischen Bedeutung der tondenhei. Sie wurden im kollektiven Gedächtnis Japans als heroische, grenzüberschreitende Pioniere verewigt, die den „Frontier Spirit“ verkörperten. Diese Bedeutung spiegelt sich etwa in dem „Dekret für tondenhei und ihre Familien“ von 1890 wider, das moralische und militärische Verhaltensregeln festlegte, aber auch in der fortwährenden Pflege ihres Erbes durch Museen und Historikerinnen und Historiker.
In der an den Vortrag anschließenden Diskussion kam unter anderem die Frage auf, ob es bevorzugte Herkunftsgegenden für die Aufnahme in das tondenhei-Programm gab. Anfangs wurden bevorzugt Menschen aus der Tōhoku-Region aufgenommen, da man diesen bereits Erfahrungen mit einem ähnlich rauen Klima wie auf Hokkaidō unterstellte. Die schlechte Annahme des Programms führte aber nicht selten dazu, dass einfach jeder, der sich für das Programm meldete, unabhängig von geografischer oder standesmäßiger Herkunft in das Programm aufgenommen wurde. Weiterhin wurde darauf hingewiesen, dass es relevant sein könnte, auch die Frage, wie die tondenhei in der Populärkultur, dem Mediensystem und der Literatur dargestellt und behandelt wurden, in die Analyse einzubeziehen.
Christoph Völker (München): Reisen als kulturelle Erfahrung. Okakura Kakuzō und seine Europareise von 1887
Im ersten Vortrag am Sonntag stellte Christoph Völker seine Forschungsarbeit zu Okakura Kakuzōs Europareise im Jahr 1887 vor. Diese stellte eine staatliche Gesandtschaftsreise im Auftrag des japanischen Kultusministeriums dar. Da es sich dabei um die erste Auslandsreise von Okakura handelte, kam ihr eine besondere Bedeutung für sein Denken und Werk zu, welches sich durchweg kulturellen Fragen widmete. Okakuras Auftrag sah vor, unter anderem durch die Besichtigung von Kunstmuseen, Akademien und weiteren Institutionen Informationen im Hinblick auf die Frage zu sammeln, wie man die Kunst in Japan modernisieren solle. Dafür begutachtete er auch zahlreiche Werke der europäischen Kunst und formulierte schließlich eigene kunsttheoretische Überlegungen. Über seine beruflichen Verpflichtungen hinaus gelang es Okakura, sich aus eigenem Interesse mit der Kunst und Kultur der von ihm bereisten Länder zu beschäftigen und persönliche Kontakte zu knüpfen, was sein Europabild stark beeinflusste.
Durch die Untersuchung der Reise als kulturelle Erfahrung verfolgt Christoph Völker das Ziel, eine neue Perspektive auf die Person Okakura und seine Reise zu ermöglichen. Dabei richtet sich sein Interesse insbesondere auf die Frage nach der Art und Weise, wie Okakura Kultur erlebte und wie er diese zu verstehen versuchte. Exemplarische Ausschnitte aus Okakuras Reisetagebuch und seinen Briefen zeigen, dass er sich Fremdes intensiv und selbstständig, etwa durch den Bezug zur eigenen Kultur, erschlossen hat.
Im Anschluss an den Vortrag entspann sich unter anderem eine Diskussion über die Trennung von Okakuras offizieller und privater Beschäftigung mit Kultur während der Reise. Auch kam die Frage auf, ob Okakura auf seiner Reise den Japonismus wahrnahm und ob er diesen ablehnte. Zumindest Ersteres wird zwar angesichts der Zeit, zu der Okakura Europa bereiste, mit Sicherheit der Fall gewesen sein, jedoch beschränken sich Okakuras schriftlich festgehaltene Äußerungen diesbezüglich nur auf kürzere Bemerkungen zur europäischen Mode.
Chantal Weber (Köln): Anna Berliner. Biographie im Spannungsfeld der deutsch-japanischen Beziehungen von 1914–1934
Als zweiten Programmpunkt am Sonntag stellte Chantal Weber ihr aktuelles Forschungsprojekt, die Rekonstruktion der Biographie von Anna Berliner (1888–1977), vor, welche von der bisherigen Forschung nur in Teilen bearbeitet wurde. Als zwei Leitfragen fungieren dabei Berliners akademische Stellung und ihre Identität als jüdische Frau.
Bedingt durch welthistorische Ereignisse war Anna Berliner immer wieder dazu gezwungen, ihren Wohnort zu wechseln – häufig über nationale und kontinentale Grenzen hinweg. Eine erste Verbindung zu Japan stellte Wilhelm Wundt dar, welcher sich mit Japan beschäftigte und als Zweitgutachter ihrer 1913 eingereichten Promotion im Fach Psychologie fungierte. Im selben Jahr trat sie ihren ersten Japan-Aufenthalt (1913–1915) an, woran sich nach fünf Jahren, welche sie in den USA verbrachte, ein zweiter Aufenthalt (1920–1925) anschloss. Überschneidungen von Personenkreisen legen hier nahe, dass ihr wahrscheinlich insbesondere die Freundschaft zu Nitobe Inazō mehrere Kontakte zur intellektuellen und akademischen Gesellschaft der Taishō-Zeit eröffnete, welche ihr zu den vielfältigen und prominenten Stellen verhalfen, die sie während ihres zweiten Japanaufenthaltes bekleidete. In dieser Zeit erlernte sie auch den Tee-Weg, über welchen sie im Jahr 1930 das erste deutschsprachige Buch veröffentlichte. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1925 eröffnete sie gemeinsam mit ihrem Mann die OAG-Geschäftsstelle in Leipzig, wo sie ab dem Jahr 1929 bis zur Verlegung der Geschäftsstelle nach Hamburg im Jahr 1934 als offizielle Repräsentantin fungierte. Der Holocaust, in dessen Zuge unter anderem ihre Mutter und ihre jüngere Schwester deportiert und ermordet wurden, zwang sie im Jahr 1938 ein letztes Mal ihren Wohnort zu wechseln und in die USA zu gehen, wo sie 1977 ermordet wurde.
Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion sind unter anderem dem Umstand geschuldet, dass Berliner keine eigenen Lebensbeschreibungen hinterlassen hat und ihre Besitztümer in Deutschland von der Gestapo beschlagnahmt wurden. Daher beschränken sich verfügbare Quellen bisher überwiegend auf das wenige vorhandene Archivmaterial der Pacific University in Oregon, wo sie zuletzt (1949–1962) als Professorin arbeitete, sowie auf Dokumente über und von dritten Personen.
Die von Chantal Weber geäußerte Hoffnung, über das Trautz-Archiv der Universität Bonn eventuell auf weitere relevante Quellen zu stoßen, konnte im Anschluss an den Vortrag durch vielversprechende Hinweise von Seiten mehrerer in das Forschungsprojekt involvierter Personen aus dem Auditorium gestärkt werden. Ferner kam die Frage auf, warum Berliner nach ihrer Rückkehr nach Deutschland ausgerechnet nach Leipzig gekommen sei. Denkbare Gründe wären hier, dass Leipzig zu jener Zeit einen wirtschaftlich interessanten Standort darstellte, an dem sie zudem bereits während ihrer Studienzeit gewohnt hatte.
Michael Albert (Bonn): Zwischen Diplomatie und Weltrevolution. Der „Lenin“-Zwischenfall als Spiegel der frühen japanisch-sowjetischen Beziehungen
Im letzten Vortrag der Tagung stellte Michael Albert sein Forschungsprojekt vor, in welchem er das Zustandekommen und die Auswirkungen des sogenannten „Lenin“-Zwischenfalls untersucht. Die in Reaktion auf das Große Kantō-Erdbeben veranlassten Hilfsmaßnahmen der Sowjetunion umfassten neben Spendensammlungen auch die Entsendung des mit Hilfsgütern beladenen Dampfers „Lenin“. Nachdem dieser am 12. September 1923 in Yokohama angekommen war, schürte das provokante Verhalten der Schiffscrew auf japanischer Seite die bereits im Vorfeld durch Gerüchte verbreitete Furcht vor kommunistischer Propaganda, weshalb der Dampfer schließlich ein Entladeverbot erhielt und unverrichteter Dinge zurückkehren musste. Diese Entwicklung kam für die sowjetische Regierung vollkommen unerwartet und löste auf Seiten beider Staaten die Sorge vor einer Zerstörung der bisherigen Fortschritte in der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen aus, die sich letztlich jedoch nicht bewahrheitete.
Die für den Zwischenfall maßgeblich verantwortliche Fehlkommunikation ist dabei aber nicht erst auf internationaler Ebene, sondern bereits innerhalb der Sowjetunion zu verorten. Diese befand sich in einem inneren Widerspruch zwischen dem Ziel einer Weltrevolution und der Notwendigkeit, normale diplomatische Beziehungen mit kapitalistischen Staaten zu unterhalten. Auch Japan befand sich in einem Dilemma zwischen den wirtschaftlichen Vorteilen einer diplomatischen Partnerschaft mit der Sowjetunion und einer konsequenten Ablehnung des Kommunismus. Da die Hilfsmission der „Lenin“ auch als Beitrag zur erst kurz zuvor begonnenen diplomatischen Annäherung an Japan konzipiert und dementsprechend als von der sowjetischen Regierung ausgehend angekündigt worden war, konnte in diesem Fall nicht auf die bezüglich solcher Konflikte bewährte Verfahrensweise einer Auslagerung potenziell heikler internationaler Aktionen auf die Komintern zurückgegriffen werden, was den „Lenin“-Zwischenfall zu einer typischen Ausnahme macht.
In der Diskussionsrunde wurde im Hinblick auf den Vortragstitel darauf hingewiesen, dass es sich bei Diplomatie eher um ein Mittel, bei der Weltrevolution allerdings eher um einen Zweck handelt. Darauf beruht der Vorschlag, stattdessen von einem diplomatischen und einem weltrevolutionären Ansatz zu sprechen. Auch wurde die Bedeutung der problematischen wirtschaftlichen Situation, in welcher sich die Sowjetunion zur Zeit des Zwischenfalls infolge des Bürgerkriegs selbst befand, diskutiert. Die Bedeutung der Tatsache, dass die Sowjetunion dennoch Hilfsmaßnahmen ergriff, musste jedoch teilweise relativiert werden, da die entsprechenden Ressourcen in der Sowjetunion nicht knapp waren. Durchaus denkbar ist allerdings, dass auch wirtschaftliche Faktoren dazu beigetragen haben könnten, den Zwischenfall eher herunterzuspielen als aufzubauschen.
(Vienna Lynn Baginski) |