Protokolle der 31.-35. Tagung aus den Jahren 2018-2020:
31. Treffen am Centre Européen d’Études Japonaises d’Alsace (CEEJA), Kaysersberg Vignoble, Kientzheim, Frankreich, 15. – 17. Juni 2018
Das 31. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand vom 15. bis 17. Juni 2018 am Centre Européen d’Études Japonaises d’Alsace (CEEJA), Kaysersberg Vignoble, Kientzheim, Frankreich statt.
Anwesend waren: Akashi Tomonori (Fukuoka/Leuven), Anja Batram (Bochum), Aline Dreher (Bochum), Daniel Gerichhausen (Bonn), Lisa Hammeke (Friedrichshafen), Nadja Kischka-Wellhäuser (Bochum), Verena Klein (Bochum), Till Knaudt (Heidelberg), Stefan Köck (Wien), Regine Mathias (CEEJA), Henriette Mühlmann (Hamburg), Ono Hiroshi (Kobe/Leuven), Erich Pauer (CEEJA), Anke Scherer (Köln), Jan Schmidt (Leuven), Wolfgang Seifert (Heidelberg), Morgaine Setzer (Bochum), Lieven Sommen (Leuven), Detlev Taranczewski (Bonn), Yukawa Shirō (Bonn), Matthias Zachmann (Berlin)
Vorträge:
Erich Pauer (CEEJA): Begrüßung.
In der Begrüßung der Teilnehmer stellte Erich Pauer, der für den Bereich Japanwissenschaften zuständige Vize-Präsident des CEEJA, die Institution kurz vor und erklärte, wie aus einer ursprünglich von 1986 bis 2006 im Gebäude betriebenen japanischen Mittel- und Oberschule das jetzige Zentrum hervorging, zu dem auch eine schnell wachsende Japan-Bibliothek gehört. Für das Initiativetreffen war in der Bibliothek eine Ausstellung Edo-zeitlicher Holzdruck-Bücher aufgebaut worden, und während der ganzen Tagung konnte und wurde die Bibliothek von den Tagungsteilnehmern rege genutzt. Eine ausführliche Bibliotheksführung mit Möglichkeiten zur individuellen Recherche fand zudem am Sonntagvormittag statt.
Daniel Gerichhausen (Bonn): Vom Geschehen zum Text. Mimesis in China-Reisberichten japanischer Literaten nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nach der Begrüßung und Einführung stellte Daniel Gerichhausen von der Universität Bonn sein Dissertationsprojekt unter dem Titel „Vom Geschehen zum Text – Mimesis in China-Reisberichten japanischer Literaten nach dem Zweiten Weltkrieg“ vor. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten japanische Literaten erstmals die Volksrepublik China bereisen. Obwohl noch mehr als zwei Dekaden bis zum Abschluss eines Friedensvertrages zwischen Japan und China vergingen, besuchten in den 1950er und 1960er Jahren einige namhafte Autoren wie Inoue Yasushi und Nakano Shigeharu das Land und legten teils ausführliche Reiseberichte vor. Anders als ihre fiktionalen Werke sind diese jedoch bislang kaum Gegenstand der Forschung geworden. In der japanischen Literaturwissenschaft werden sie allenfalls als Quellen für biographische Arbeiten genutzt oder bei der Suche nach Realitätsreferenzen in den literarischen Werken der Autoren herangezogen. Meist liegt dieser Betrachtungsweise eine unkritische Gleichsetzung von Reiseberichten mit bloßer faktengetreuer Wiedergabe vergangenen Geschehens zugrunde, die kompositorische und ästhetische Verfahren vernachlässigt.
Der Vortrag problematisierte diese Herangehensweise und stellte einen narratologischen Ansatz vor, um die Wirklichkeitsdarstellung in diesen Werken durch die Analyse rhetorischer und narrativer Strategien zu untersuchen. Dieser Zugang kombiniert die drei Ebene der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration, die die Wechselwirkung zwischen Text und Wirklichkeit beschreiben, mit den vier Stufen der narrativen Repräsentation und Transformation nach Nünning: [1] Geschehen (d.h. das tatsächliche Erleben) – [2] Geschichte (d.h. derzeitlicher Ausschnitt, bereits sinnhaft gedeutet) – [3] Erzählung (d.h. die kompositorische Formgebung/der Plot) – [4] Text (d.h. das Resultat). Anhand von Kriterien zur typologischen Differenzierung wie Selektion von Referenzbereichen, Gestaltung der Erzählebene, Zeitbezug und intendierte Textfunktion präsentierte Daniel Gerichhausen die folgenden vier Typen von Reiseberichten, in die er im Anschluss ausgewählte Beispiele einordnete: Dokumentarischer Reisebericht („Geschehnisse genau belegen“), Realistischer Reisebericht („Erzählen“), Revisionistischer Reisebericht („Neu beschreiben“) und Selbstreflexive Meta-Reisefiktion. Damit zeigte er, dass entgegen der Vorstellung von authentischen Augenzeugenberichten erst durch Selektion und Konfiguration einzelner Elemente gattungskonforme Ausprägungen des Reiseberichts entstehen.
In der Diskussion wurde die Frage nach der Zielrichtung der Dissertation diskutiert. Dabei wurde in Frage gestellt, ob es tatsächlich noch das Problem in der japanischen Literaturwissenschaft gibt, dass Reiseberichte als objektive Quelle gesehen werden. Außer dieser Nachfrage nach dem heuristischen Wert der Dissertation wurden Aspekte wie die Darstellung Chinas im Licht der Vorbelastung des sino-japanischen Verhältnisses durch die Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkriegs vermisst.
Erich Pauer (CEEJA): Vom Studenten der chinesischen Klassiker zum modernen Ingenieur – Die „Ōhara-Papers“.
Im zweiten Vortrag mit dem Titel „Vom Studenten der chinesischen Klassiker zum modernen Ingenieur – Die ‚Ōhara-Papers‘“ sprach Erich Pauer vom CEEJA über Mitschriften und Praktika-Berichten eines Bergbau-Studenten (Ōhara Junnosuke) des Imperial College of Engineering (工部大学校) aus den Jahren 1878- 1882, die er durch Zufall vor einiger Zeit erwerben konnte. Dieser einzigartige Fund ermöglicht es, den Bildungs- und Karriereverlauf eines aus dem Stand der Samurai kommenden Studenten hin zum modernen Ingenieur exemplarisch nachzuzeichnen. Die seltenen Dokumente erlauben es, erstmals den Unterricht und die Inhalte von Vorlesungen, die die englischen und schottischen Lehrer am College of Engineering abhielten, zu analysieren. Die Mitschriften zeigen zudem, wie das westliche Wissen rezipiert wurde und auf welchem technischen Niveau sich die Studenten beim Abschluss befanden. Ebenfalls deutlich wird aus den Unterlagen z.B. auch der konkrete Verlauf von Praktika. In den Berichten zeichnet der Student ein genaues Bild der Lage verschiedener Gold‑, Silber- und Kohlebergwerke, deren Lage, die betrieblichen Verhältnisse, die traditionellen wie modernen Geräte, die Arbeitskräfte etc. Darin spiegelt sich auch ein bislang so nicht gekanntes eindrucksvolles Bild der Modernisierung in einem für Japan äußerst wichtigen Industriebereich. So zeigt ein Praktikumsbericht über das Bergwerk in Ikuno, wie dort noch traditionelle Gerätschaften und Praktiken neben technischen Neuerungen und modernen Maschinen zum Einsatz kamen. Da aus der Zeit zwischen 1868 und 1885 nur wenige Unterlagen aus dem Bergbau erhalten sind, erlauben die Aufzeichnungen von Ōhara die Verhältnisse in japanischen Bergwerken in einer wichtigen Umbruchphase zu verstehen, über die es ansonsten wenige Quellen gibt. Die Analyse der Aufzeichnungen von Ōhara zeigt, dass die japanischen Bergwerke in der frühen Meiji-Zeit moderner waren als bislang angenommen. Auch lassen seine Aufzeichnungen über Löhne und Kosten in den Bergwerken wichtige Rückschlüsse über betriebswirtschaftliche Aspekte im damaligen japanischen Bergbau zu.
Im Anschluss an den Vortrag wurde über den Einfluss der ausländischen Professoren und der Verwendung von Englisch als Ausbildungssprache auf die Prägung von Ōhara und anderen Ingenieuren seiner Generation diskutiert. Zwar lassen sich keine umfassenden Erkenntnisse über den Einfluss dieser Faktoren aus den Quellen gewinnen, aber die Tatsache, dass Ōhara einige Zeit brauchte, um sich von einem mittelmäßigen zu einem sehr guten Studenten zu entwickeln, zeigt, dass er einen längeren Anpassungsprozess an die Unterrichtssprache und Arbeitsweise der ausländischen Dozenten, die sich ihrerseits kaum an japanische Verhältnisse anpassten, durchlaufen hat.
Ono Hiroshi (Kobe): Themen und Nutzen von Studien zur Militärgerichtsbarkeit.
Im ersten Kurzbericht des Nachmittags sprach Ono Hiroshi von der Universität Kobe auf Japanisch über Themen und den Nutzen von Studien zur Militärgerichtsbarkeit. Da es sich um ein erst kürzlich begonnenes Forschungsvorhaben handelt, hatte der Bericht eher einen Werkstattcharakter. Sein Fokus lag dabei nicht auf dem, was der Begriff der Militärgerichtsbarkeit gemeinhin beinhaltet (z.B. Rechtsprechung innerhalb des Militärs), sondern auf der vom japanischen Militär in besetzten Gebieten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg ausgeübte Gerichtsbarkeit. Diese hatte in den besetzten Gebieten die Aufgabe der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, weshalb neben dem Kernbereich der vor Militärgerichten zu verhandelnden Vergehen im militärischen Bereich vor allem zahlreiche Gesetze zur zivilen Verwaltung der besetzten Gebiete im Zentrum der Erforschung der dortigen Militärgerichtsbarkeit stehen. Am Beispiel der von der japanischen Armee im besetzten Hongkong ausgeübten Gerichtsbarkeit zeigte Hiroshi Ono, dass es sich hierbei nicht wie häufig angenommen um eine Herrschaft ohne Gesetze (rule without law) handelte, sondern dass es im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Prozess gab, in dem sich die Idee einer auf Gesetzen basierenden Herrschaft (rule by law) in den vom japanischen Militär besetzten Gebieten entwickelte.
Akashi Tomonori (Fukuoka): Zur Geschichte der Gefängnisse in der Meiji-Zeit. Die Unabhängigkeit der Gefängnisverwaltung und ihr Einfluss.
Im zweiten japanischsprachigen Kurzbericht des Nachmittags „Zur Geschichte der Gefängnisse in der Meiji-Zeit. Die Unabhängigkeit der Gefängnisverwaltung und ihr Einfluss“ sprach Akashi Tomonori von der Kyūshū-Universität in Fukuoka über die Ergebnisse seiner Dissertation. Darin zeigte er die Veränderungen im japanischen Gefängnissystem von der Edo-Zeit bis zur Meiji-Zeit. Da es in der Edo-Zeit kein landesweit einheitliches System von Gefängnissen, sondern eine Mischung aus Praktiken wie Hinrichtung, Verbannung, Tätowierung etc. für die Ahndung von Straftaten gab, bezeichnete er die Meiji-Zeit als eine Art „Stunde Null“ für den Aufbau eines modernen Gefängnissystems. In seiner Dissertation zeichnet er die Herausbildung dieses professionellen Systems und der Einflüsse auf seine Entwicklung nach. Dabei ging er auch auf die Problematik der Finanzierung von Gefängnissen sowie den Einfluss von Religion und Gesellschaft bei der Herausbildung einer modernen Gefängnisverwaltung ein.
Jan Schmidt (Leuven): Kammern der Macht? Eine Politik- und Kulturgeschichte der Industrie- und Handelskammern Japans, 1878–1960er Jahre.
Kurzvorstellung Nummer drei von Jan Schmidt von der KU Leuven hatte den Titel „Kammern der Macht? Eine Politik- und Kulturgeschichte der Industrie- und Handelskammern Japans, 1878–1960er Jahre“. Dem Thema der Industrie- und Handelskammern (IHK) Japans wurde in der Forschung zur Neueren und Neuesten Geschichte Japans bis dato vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt. Das ist erstaunlich, wenn man deren Rolle in politikgeschichtlicher Perspektive bedenkt. Auch ihre Funktionen als wesentliches Organ zur Verteilung von Informationen, die weit über den ökonomischen Bereich hinausgehen, sowie als Stätten – natürlich stets interessenbasierter – kultureller Veranstaltungen oder philanthropischer Initiativen, die häufig in einem Spannungsverhältnis zur (post)imperialen Metropole Tokyo standen, wurden nur unzureichend beleuchtet. Die bisherige Forschung betont die Funktion der IHKen als Orte des Austauschs und der Diskussion zum Zwecke der Weiterentwicklung der lokalen Wirtschaft. Das Projekt von Jan Schmidt wird darüber hinaus den Zusammenhang mit nationalen sowie den imperialen ökonomischen Zielen erforschen. Die IHKen waren als Sponsoren und Veranstalter zahlreicher Kulturveranstaltungen und als Sammler von Statistiken und Herausgeber auf diesen Statistiken basierender Publikationen eine Pressure Group, die die lokalen wirtschaftlichen Interessen innerhalb der Region und / oder dem Gesamtstaat gegenüber vertraten und damit auch politischen Einfluss ausübten. Als eine Fallstudie stellte er die IHK von Otaru vor, einem Ort, der in der Meiji-Zeit als Tor zu Hokkaidō gesehen wurde. Dort wurde 1895 eine IHK gegründet, die in den 1910er und 1920er Jahre eine Scharnierfunktion zwischen lokaler Wirtschaft und Nationalstaat hatte, unter anderem durch die Professionalisierung der Informationsgewinnung und die Einrichtung von Abteilungen, in denen Zahlen gesammelt und Statistiken erstellt wurden.
Nadja Kischka-Wellhäußer (Bochum): Frauenvereine und weibliche Selbstorganisation im Japan der Meiji-Zeit: Starke Bindungen.
Der zweite Teil des Nachmittags begann mit der Kurzvorstellung von Nadja Kischka-Wellhäußer von der Ruhr-Universität Bochum. In ihrem Vortrag über „Frauenvereine und weibliche Selbstorganisation im Japan der Meiji-Zeit: starke Bindungen“ thematisierte sie die frühen japanischen Frauenvereine etwa zwischen den 70er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Dabei legte sie den Fokus auf die Verbindungen zwischen den Hauptakteurinnen sowie einigen Institutionen, die auf verschiedenen Wegen für die Emanzipation der japanischen Frau eintraten. Das Hauptaugenmerk des im Vortrag vorgestellten Teilbereichs des Forschungsprojekts liegt auf dem Verbindungsgeflecht zwischen einigen ausgewählten Personen, Angehörigen eines der Frauenvereine und Personen aus anderen Institutionen wie bestimmte Mädchenschulen oder Printmedien, das auf die Existenz eines sozialen Netzwerkes schließen lässt. Im Projekt soll dieses Netzwerk näher beschrieben und auf verschiedene Weise visuell dargestellt werden, je nachdem, welche inhaltlichen Schwerpunkte durch die Graphik beleuchtet werden. Durch einzelne Beispiele von Biographien gesellschaftlich engagierter Frauen soll die Tragfähigkeit dieses Beziehungskomplexes herausgestellt werden. Ziel dabei ist es, die Bedeutung des Personen- und Interorganisationsnetzwerkes herauszustellen und die zeitliche Ausdehnung und Bestand des Netzwerkes zu dokumentierten. In der Diskussion kritisch hinterfragt wurde die Zielrichtung der Netzwerkanalyse allgemein sowie das konkrete Ziel der Erforschung der praktischen Aspekte der Lehrer-Schüler-Beziehung in der Frauengruppe. Auch wurde die Frage nach der Rolle des Christentums in den dargestellten Netzwerken diskutiert.
Stefan Köck (Wien): Multidimensionalität von shintō-uke und den Quellen und Interpretationsansätze zur religiösen Kontrolle im Okayama-han.
Der nächste Vortrag von Stefan Köck von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien beschäftigte sich mit der Multidimensionalität von shintō-uke und den Quellen und Interpretationsansätze zur religiösen Kontrolle im Okayama-han. Obwohl das System der religiösen Kontrolle der Bevölkerung durch Shintō-Schreine (shintō-uke) im Okayama-han von 1666 an rund 25 Jahre praktiziert wurde, sind vergleichsweise wenige zeitgenössische Quellen überliefert, aus denen sich Informationen über die Umsetzung von shintō-uke gewinnen lassen. Im Ikeda-Familienarchiv der Universität Okayama und im Präfekturarchiv des Okayama-ken finden sich jeweils verschiedene Quellenkorpora mit Bezug zu diesem Thema. Nur weniges davon liegt in edierter Fassung vor. Im Vortrag stellte Stefan Köck vor, welche Dimensionen von >em>shintō-uke>/em> sich auf Basis der Quellen beider Archive beschreiben lassen. Dabei zeigte er, wie sich durch Kombination von Quellen beider Archive und durch die formale Vielfalt der vorhandenen Quellen zeitgenössische Erscheinungen beschreiben lassen und diskutierte den Beitrag von shintō-uke zu Entwicklungsprozessen langfristiger Natur, die bis ins 19. Jahrhundert reichten. Im Anschluss an den Vortrag wurde die Frage besprochen, ob es sich beim vorgestellten Phänomen um eine lokale, auf Okayama bezogene Maßnahme handelte. Nach Aussage eines japanischen Wissenschaftlers war das shintō-uke-System von Okayama Vorbild für ähnliche Maßnahmen der Tempel- und Schreinreduzierung der Meiji-Zeit.
Till Knaudt (Heidelberg): Maikon in Maihōmu.
Der letzte Vortrag von Till Knaudt von der Universität Heidelberg mit dem Titel „Maikon in Maihōmu“ war ein Werkstattbericht zu einer Geschichte des Heimcomputers in Japan. Ende der 1970er Jahre bis Anfang der 1990er Jahre entstand in Japan ein spezielles Ökosystem der elektronischen Datenverarbeitung, das aufgrund u.a. der technologischen und ökonomischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des sino-japanischen Schriftsystems von einheimischen Konzernen wie NEC, Fujitsu, Sharp und Sony dominiert wurde. Jenseits von Bürosystemen zur Text- und Datenverarbeitung, sowie Spielkonsolen, setzten sich drei verschiedene Hardware- Plattformen durch: Personalcomputer (pasokon), Heimcomputer (maikon), und Textprozessoren (waapuro). Gegenüber allen dieser Systeme gab es von Anfang an Erwartungshaltungen und Ängste; von der Verwandlung von Grundschülern in BASIC-Programmierer, der Automatisierung von (Büro-)Arbeit (OA=office automatization) bis zum vermeintlichen Untergang der japanischen Sprache. Zu den soziokulturellen Auswirkungen der Ankunft von Computern in Familien, Schulen, Büros und Kleinbetrieben liegen kaum Forschungsergebnisse vor. Der Werkstattbericht befasste sich mit der ersten Phase der Heimcomputer zwischen 1977 und 1985 und diskutierte das Potential dieses Themas als soziokulturelle Technikgeschichte. In den spätern 1970er und frühen 1980er Jahren hatte sich eine „Hobbyistenszene“ herausgebildet. Danach begann die Massenvermarktung zuerst mit sexualisierter Werbung, die männliche Computerfreaks ansprechen sollte. Dies wich allerdings schnell zielgruppenspezifischen Werbestrategien für alle Teile der japanischen Gesellschaft. Mögliche Forschungsfragen für das Projekt umfassen die Veränderung sozialer Beziehungen in Schule, Familie, Arbeit durch maikon, die Veränderung von Geschlechterrollen, der Einfluss der Automatisierung auf Arbeitsverhältnisse, die Vermittlung von Programmierwissen in Schulen, die Veränderung des Verständnisses von elektronischer Technologie durch Homecomputer und BASIC. Auch die Fragen, ob sich eine Art Nihonjinron rund um „japanische Computer“ entwickelte, welche politischen und wirtschaftlichen Widerstände gegen Globalisierung von Technologie erkennbar waren und ob die Funktion von Heimcomputer eher integrativ oder spaltend war, sollen im Projekt thematisiert werden.
Verschiedenes:
Der Sonntagvormittag bot allen Tagungsteilnehmern die Möglichkeit, an einer ausführlichen Bibliotheksführung teilzunehmen und die Bibliothek danach für individuelle Recherchen zu nutzen. Weiterhin gab es die Möglichkeit, ein Video aus einer Sendereihe der Abteilung Education Television von NHK über den Philosophen Maruyama Masao anzusehen. Bei diesem Video handelte es sich um einen Überblick über Maruyamas Entwicklung zum politischen Denker der japanischen Demokratie. Außerdem finden sich darin mehrere Interviews und Stellungnahmen zum Thema ANPO 1959 /60, zur Studentenbewegung und ihren Zielen, wie sie die japanischen 1968er vertraten. Mehrere Wissenschaftler, darunter Mitani Tai’ichirō und Sasaki Takeshi, kommentieren. Auch eine Reihe kritischer Stimmen sind zu hören, darunter der Kulturkritiker und Literat Yoshimoto Takaaki, der Max Weber-Forscher Orihara Hiroshi, und besonders Maruyamas Sohn, Maruyama Akira (heute Mathematik-Professor), der Ende der 1960er Jahre selber in der Zenkyōtō-Studentenbewegung an der Nihon daigaku (Nichidai) aktiv war. Aufgrund eines detaillierten Handouts, das Wolfgang Seifert eigens für die Vorführung mit anschließender Diskussion angefertigt hatte, erhielten die Teilnehmer des Treffens einen sehr guten Einblick in das Schaffen und Wirken von Maruyama Masao.
Das Treffen endete mit einer kurzen Diskussion über die nächsten Tagungsorte. Für das erste Novemberwochenende (3. und 4. November 2018) hat sich Robert Kraft aus Leipzig zur Ausrichtung des Treffens bereit erklärt. Unterstützt wird er von Tino Schölz.
(Anke Scherer)
32. Treffen an der Japanologie der Universität Leipzig, 3. — 4. November 2018
Das 32. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 4. bis 5. November in der Japanologie an der Universität Leipzig statt und wurde von Robert Kraft und Tino Schölz organisiert.
Vorträge:
Michael Facius: Mitsukuri Genpachi, Tsuboi Kumezō und die Westliche Geschichte in der Meiji-Zeit
Den ersten Vortrag hielt Michael Facius zum Thema Mitsukuri Genpachi, Tsuboi Kumezō und die Westliche Geschichte in der Meiji-Zeit. Mitsukuri Genpachi 箕作元八 (1862–1919) und Tsuboi Kumezō 坪井九馬三 (1858–1936) gehörten gemeinsam mit dem gleichaltrigen Ludwig Riess (1861–1921) zur ersten Generation von Historikern, die sich an der Universität Tokyo mit der Geschichte des Westens (西洋史 Seiyō-shi) befassten. Anders als bei Riess, der häufig als Begründer nicht nur der westlichen Geschichte, sondern auch der modernen Geschichtswissenschaft in Japan überhaupt angesehen wird, sind Biografie und Wirken der Erstgenannten kaum erschlossen. Auf Japanisch liegen neben einer Edition von Mitsukuris Reisetagebuch zwar vor allem Kurzbiografien, Nachrufe und persönliche Erinnerungen ihrer Schüler, aber in europäischen Sprachen bislang noch gar keine Forschung vor.
Deshalb gab der Vortrag zuerst einen Überblick über die zentralen biografischen Stationen Mitsukuris und Tsubois. Beiden begannen mit naturwissenschaftlichen Studien, bevor sie sich der in Japan noch nicht voll etablierten Disziplin der Geschichtswissenschaft zuwandten. Beide verbrachten mehrere Jahre im Auslandsstudium in Deutschland, wo sie promovierten, und beide wurden nach ihrer Rückkehr nach Japan sehr schnell auf Professorenstellen berufen: Tsuboi erhielt 1893 den Lehrstuhl für Geschichtswissenschaft und Geografie, Mitsukuri folgte Ludwig Riess 1902 als Professor für die Geschichte des Westens nach.
Im Anschluss an die biografischen Daten stellte Michael Facius kurz die wichtigsten fachlichen Veröffentlichungen der beiden Historiker vor. Etwas vereinfacht gesprochen entstand daraus ein Profil von Mitsukuri als Fachhistoriker für europäische und speziell für französische Geschichte. Demgegenüber war Tsuboi breiter orientiert, zeigte in seinen Publikationen theoretisches Interesse und versuchte ordnende Prinzipien in der Geschichte aufzuzeigen. Die Idee, dass Geschichte naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, war dabei ein völlig neuer, moderner Ansatz in der Wissenschaft in Japan.
Ein Grund für die in Japan neue Beschäftigung mit westlicher Geschichte war ein ebenfalls neues Verständnis von Geschichte als Globalgeschichte. Dies beinhaltete, dass Mitsukuri und Tsuboi davon ausgingen, dass man die japanische Geschichte nur mit Kenntnissen über westliche Geschichte verstehen kann. Da Globalgeschichte aber nicht von den im Westen entwickelten Themen und Herangehensweisen alleine bestimmt sein dürfte, wiesen beide Historiker auf die Wichtigkeit des Beitrags zur Globalgeschichte aus anderen Teilen der Welt hin. Die veränderte Sicht von Japans Rolle in der Globalgeschichte zeigt zum Beispiel ein von Tsuboi 1904 herausgegebener Sammelband zur Orientierung in Kriegszeiten. Darin ist im Gegensatz zum bislang vorherrschenden Bild vom aktiven Westen, der die Geschichte vorantreibt, jetzt Japan eine treibende Kraft der geschichtlichen Entwicklung und wichtiger Teil der Weltgeschichte.
In der an den Vortrag anschließenden Diskussion ging es dann unter anderem darum, die Bedeutung der beiden Historiker für die moderne japanische Geschichtswissenschaft einzuschätzen. Hierzu merkte Michael Facius an, dass hier häufig die Rolle von Ludwig Riess in den Vordergrund gestellt würde, obwohl dieser durch seine Lehrtätigkeit lediglich seine direkten Studenten an der Universität Tokyo erreicht hatte. Demgegenüber prägten die von Mitsukuri und Tsuboi verfassten Lehrbücher ganze Generationen von Mittelschülern in Japan.
Auch über die Übernahme westlicher Theorien und Methoden in der japanischen Geschichtswissenschaft wurde diskutiert. So stammte die Idee, dass es Gesetzmäßigkeiten in der geschichtlichen Entwicklung gibt, höchstwahrscheinlich aus dem Kontakt, den beide Wissenschaftler mit deutscher Philosophie bzw. dem historischen Materialismus während des Studiums in Deutschland hatten. Bei beiden im Vordergrund standen aber weniger die Gesetzmäßigkeiten von historischer Entwicklung als mehr die Überzeugung, dass Geschichte ein globales Phänomen ist.
Die Orientierung am deutschen Vorbild war für beide Wissenschaftler sehr prägend, aber Michael Facius relativierte die über Ludwig Riess gezogene direkte Linie der Nachfolge als „Enkelschüler“ des deutschen Historikers Leopold von Ranke. So wird Ludwig Riess zwar häufig diskursiv als Schüler Rankes präsentiert, er hatte diesen aber nur zweimal getroffen und sein „Schülersein“ stützte sich vor allem darauf, dass er Rankes Ansichten vertrat. Tsuboi und Mitsukuri haben sich von Ranke insofern etwas abgesetzt, als dass Tsuboi die von Ranke vertretene Idee, dass Geschichte von großen Männern gemacht werde, ablehnte und Mitsukuri von sich sagte, dass er zwar ein Verehrer von Ranke, aber kein blinder Gefolgsmann sei.
Lutz Dammbeck: Bruno & Bettina – Ein Gespräch über Kunst und Revolution (Filmvorführung und Gespräch)
Als zweiter Programmpunkt am Samstagnachmittag wurde der Dokumentarfilm „Bruno & Bettina – Ein Gespräch über Kunst und Revolution“ gezeigt, in dem Lutz Dammbeck (Lutz Dammbeck Filmproduktion, Hamburg) mit Adachi Masao ein Interview führt. Adachi Masao ist einer der bekanntesten Autoren und Regisseure des japanischen Kinos. 1971 fuhr er mit seinem Kollegen Wakamatsu Koji vom Filmfestival in Cannes in den Libanon und drehte für die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP) einen Dokumentar- und Propagandafilm. Drei Jahre später, 1974, schloss er sich der von Shigenobu Fusako im Libanon in der Bekaa-Ebene gegründeten „Japanischen Roten Armee“ an. Nach dreiundzwanzig Jahren in der Illegalität wurde er verhaftet, vor Gericht gestellt und wegen eines Passvergehens verurteilt. Heute lebt Adachi in Tokyo und engagiert sich gegen die japanische Atomindustrie.
In der Dokumentation spricht Lutz Dammbeck mit Adachi Masao über sein Leben, wie er in Kontakt kam mit der „Japanischen Roten Armee“, was er im Libanon machte, welche Filme er drehte und welches Verhältnis der Regisseur zu Kunst, Revolution und Terrorismus hat. Dabei werden nicht alle im Film gestellten Fragen beantwortet, besonders nicht die nach der Rolle von Adachi und Shigenobu als von der Stasi als „Bruno“ und „Bettina“ geführten Personen.
Im Anschluss an den Film entspann sich eine sehr kontroverse Diskussion darüber, wie ein solcher Dokumentarfilm mit seinem Sujet umgeht. Gefragt wurde danach, ob nicht eine solche Dokumentation jemandem wie Adachi eine Bühne gibt, Gewalt wie sie die „Japanische Rote Armee“ ausübte, zu legitimieren. Bemängelt wurde das Fehlen einer echten Diskussion dieser Probleme im Film. Der Filmemacher erklärte daraufhin, dass ein Dokumentarfilm als Zeitdokument seiner Ansicht nach nicht die Aufgabe habe, den interviewten Protagonisten zu belehren.
Diskutiert wurde auch die Frage, was kleine bewaffnete Gruppen wie die „Japanische Rote Armee“ antrieb und ob solche Bewegungen ihre Ziele erreichen konnten; denn die japanische Entwicklung ist ein gutes Beispiel dafür, wie Aktionen solcher Gruppen eigentlich nur den Staaten etwas nützen, die ihre Überwachung von Menschen mit dem Kampf gegen terroristische Aktionen legitimieren.
Wolfgang Seifert: War die Expansion des modernen Japan „normal“ für eine aufstrebende Macht? – Die Annexion Koreas 1910, ihre Rechtfertigungen und die Folgen
Den ersten Vortrag am Sonntagmorgen hielt Wolfgang Seifert. Sein Thema lautete: „War die Expansion des modernen Japan ‚normal‘ für eine aufstrebende Macht? – Die Annexion Koreas 1910, ihre Rechtfertigungen und die Folgen“. Er ging darin der Frage nach, ob Politiker und Völkerrechtler in den westlichen Großmächten als Befürworter einer völkerrechtlichen Konfliktlösung auf der koreanischen Halbinsel eine Mitverantwortung für das Verschwinden Koreas von der Landkarte der Diplomatie und in den internationalen politischen Beziehungen hatten. Neben der völkerrechtlichen Dimension sprach er auch weitere Dimensionen an, die für die Legitimierung der Annexion und die anschließende Kolonialherrschaft durch Japan bedeutsam waren.
Zuerst zeichnete er nach, wie in den Jahren bis 1910 die Annexion Koreas von Seiten der japanischen Regierung in völkerrechtlicher Hinsicht vorbereitet wurde. Da sich der moderne japanische Staat in die von den westlichen Mächten geprägte Staatenordnung auch rechtlich integrieren musste, spielte das damalige Völkerrecht eine entscheidende Rolle bei der Legalisierung der Annexion. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob der so genannte Annexionsvertrag vom 22.08.1910 legal und völkerrechtlich bindend war, da der koreanische Kaiser mit physischer Gewalt zur Unterzeichnung gezwungen wurde und das kaiserliche Siegel von einem japanischen Gesandten unter den Vertrag gesetzt wurde.
Das Völkerrecht muss Regelungen zur Lösung schwieriger Probleme finden, wie zum Beispiel zur Frage, wo die Aneignung von Territorium anfängt und ob dies bereits damit geschieht, dass sich einzelne Einwanderer auf dem Territorium eines anderen Landes niederlassen, das Gebiet als terra nullius („Niemandsland“) deklarieren und es urbar machen. Hier liegt in der Regel auf Seiten des Aneignenden kein Unrechtsbewusstsein vor, aber diese Art der Besiedlung diente Kolonialmächten oft als Beginn der Aneignung von Territorium. Dieser Fall war bei Korea natürlich nicht gegeben.
Wolfgang Seifert betonte, dass die ersten Schritte der japanischen Expansion in Asien von der Suche nach Anerkennung durch die westlichen Großmächte motiviert waren. Die Ansichten der anderen Staaten in Ostasien wurden als nebensächlich betrachtet. Japan grenzte sich im späten 19. Jahrhundert von dem bis dahin in Ostasien herrschenden Prinzip der Suzeränität ab, bei dem China im Zentrum stand. Die chinesische Vormachtstellung wurde bis zum Auftreten des modernen Japan von den anderen Staaten in der Region durch tributäre Beziehungen anerkannt, mit denen sich diese Staaten China unterordneten.
Das Infragestellen dieser Suzeränitätsbeziehung von Korea zu China begann unter japanischem Druck mit dem Vertrag von Kanghwa (1876); denn darin wird Korea als ein „independent state“ (自主の国) mit gleichen Rechten (平等の権) wie Japan bezeichnet. China verstand unter „unabhängig“ jedoch, dass die tributäre Beziehung beibehalten wird. Mit dem Vertrag von Shimonoseki (1895) sollte Korea dann endgültig aus dem china-zentrierten Umkreis herausgelöst werden, weshalb Japan in diesem Vertrag für Korea den Terminus „unabhängiger und autonomer Staat“ (独立自主の国) (dokuritsu / independent: aus dem westlichen Völkerrechtsdiskurs) benutzte.
Danach folgte allerdings die graduelle Übernahme von Befugnissen in der koreanischen Regierung und Verwaltung nach vertraglichen Festlegungen in den Jahren 1904 und 1905 durch japanische Berater. 1905 wurde Korea zu einem japanischen Protektorat; in den Verträgen ist festgelegt, dass ohne das Zurateziehen japanischer Berater z.B. keine finanziellen und internationalen Angelegenheiten des koreanischen Staates entschieden werden dürfen. Gerechtfertigt wurde das unter anderem durch Itō Hirobumi, der von 1905 bis 1909 erster japanischer Generalresident in Korea war, damit, dass das Land noch nicht den Grad der Zivilisation (民度 mindo) erreicht habe, der die Unabhängigkeit ermöglicht. Die Ermordung Itōs 1909 durch einen koreanischen Nationalisten und Unabhängigkeitskämpfer wurde von japanischer Seite dann als Vorwand für die Annexion des Landes genommen. Das Ergebnis des Ausgreifens Japans auf Korea war damit die Auslöschung eines Staates, der in der traditionellen Ordnung Ostasiens durchaus anerkannt gewesen war.
In der Diskussion wurde die Frage danach diskutiert, was denn in der damaligen Zeit „normal“ war, bzw. was mit den damaligen völkerrechtlichen Normen übereinstimmte. Da Japan die Begrifflichkeiten in den Verträgen, die schließlich zur Annexion führten, setzte, sorgte die japanische Seite durch diese Diskurshoheit dafür, dass das Vorgehen nicht mit den westlichen Vorstellungen von Völkerrecht kollidierte und in eine „zivilisatorische Mission“ Japans in Korea eingebunden war.
Maik Hendrik Sprotte: Ex oriente lux — Über das Narrativ eines Lebens und Sterbens von Moses und Jesus Christus in Japan
In „Ex oriente lux“, dem zweiten Vortrag des Sonntags, sprach Maik Hendrik Sprotte „Über das Narrativ eines Lebens und Sterbens von Moses und Jesus Christus in Japan“. So befindet sich in Japan neben einem Moses-Grab in Hōdatsu-Shimizu in der Präfektur Ishikawa auch ein Christus-Grab im Dorf Shingo (ehemals Herai) in der Präfektur Aomori. Der Legende nach, auf der dieses Grab beruht, überlebte Jesus die Kreuzigung und verbrachte seinen Lebensabend in Japan. Eine Familie im Dorf Shingo beruft sich auf die Abstammung von Jesus Christus. Die mutmaßliche „Entdeckungen“ der Gräber von Jesus und Moses in den 1930er Jahren sind aber nicht etwa in einem christlichen Kontext verständlich, sondern hängen zusammen mit einem größeren Korpus von Texten und Artefakten, den Takeuchi-Dokumenten (Takeuchi monjo 竹内文書), von denen eine breitere japanische Öffentlichkeit in den 1920er Jahren Kenntnis erhielt.
In den Takeuchi-Dokumenten ist unter anderem ein neuer Schöpfungsmythos für Japan und eine andere Kulturgeschichte des Landes enthalten. Die Dokumente beschreiben Entwicklungen, die vor dem stattgefunden haben sollen, was in Aufzeichnungen wie Kojiki und Nihongi aufgeführt ist. Dieser Textkorpus lieferte die Begründung für eine, den durch die Machthaber propagierten Überzeugungen der Zeit völlig zuwiderlaufende „Reichsgeschichte“ Japans, die sich aufgrund ihrer Inhalte weit eher als „Weltgeschichte“ offenbarte. Die etwa 4000 Texte und Artefakte sind ein Kompendium von Dokumenten und Gegenständen, das die gesamte Spanne der japanischen Geschichte, von der Schöpfung der Welt bis in die Anfangsjahre der Meiji-Zeit, abzudecken scheint. Neben Aufzeichnungen auf Baumrinde, Leder oder Papier gehörten zu der Sammlung ebenso Steine mit verschiedenen, vornehmlich in „Schriftzeichen der Götterzeit“ (kamiyo moji, auch jindai moji 神代文字) ausgeführten Inschriften.
Als heilige Schriften einer in Shintō-Tradition stehenden Neuen Religion (shintō-kei shin-shūkyō 神道系新宗教) lassen sich die Takeuchi-Dokumente in ihrer religions- und politikwissenschaftlichen Exegese unter dem Dach des religiösen Fundamentalismus und Nationalismus, hier des Shintō-Nationalismus, verorten.
Die weltgeschichtliche Dimension der Dokumente besteht u.a. darin, dass darin behauptet wird, dass alle Religionsstifter der Welt in Japan geschult wurden. Auch auf die Zehn Gebote gab es laut der Takeuchi-Dokumente einen japanischen Einfluss; denn nachdem die erste Version der Gebote nicht vom japanischen Kaiser abgesegnet worden war, soll Moses sie zerstört und dann eine zweite Version erhalten haben, die heute als die Zehn Gebote gelten.
Obwohl die Dokumente als Fälschungen zu klassifizieren sind, sind sie nichtsdestotrotz interessant in ihrem Beitrag zur Entstehung der organisatorischen Struktur einer auf ihnen basierenden Neuen Religion, die bis heute noch besteht. Interessant ist auch der zeitgenössische Umgang mit ihrem Verfasser Takeuchi Kiyomaru, der in der Showa-Zeit eine große Anzahl von Anhängern für seine neue Religion um sich versammelt hatte. Ab den 1930er Jahren geriet Takeuchi mit dem Gesetz in Konflikt, weil ihm Majestätsbeleidigung und die missbräuchliche Benutzung von Symbolen der Kaiserfamilie vorgeworfen wurde. Auch wurde ihm wegen seiner von der offiziellen Diktion abweichenden Schöpfungs- und Weltgeschichte Ketzerei vorgeworfen, und sein Kult wurde verboten. In der Nachkriegszeit gelang es Takeuchi dann aber, seine Neue Religion wiederzubeleben, die nach seinem Tod von seinem Sohn weitergeführt wird.
Das Treffen endete mit einer kurzen Diskussion über den nächsten Tagungsort. Das nächste Treffen wird am 25. und 26. Mai 2019 in Bochum stattfinden und von Daniel Wollnik und Tino Schölz organisiert.
(Anke Scherer)
33. Treffen an der Ruhr-Universität Bochum, 25.–26. Mai 2019
Das 33. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 25. und 26. Mai 2019 organisiert von Daniel Wollnik und Tino Schölz an der Ruhr-Universität in Bochum statt.
Vorträge:
Maj Hartmann: Japan und die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte – Nichtstaatliche Akteure in internationalen Urheberrechtsverhandlungen, 1897–1939
Nach einer Vorstellungsrunde hielt Maj Hartmann (KU Leuwen) den ersten Vortrag zum Thema „Japan und die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte — Nichtstaatliche Akteure in internationalen Urheberrechtsverhandlungen, 1897–1939“. Im Zentrum des Vortrags stand die so genannte Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst, die 1886 auf Initiative internationaler Berufsverbände gegründet worden war. Seit der Gründung strebte das internationale Büro der Berner Union eine globale Ausweitung des Vertrages an, wofür die Anzahl der Mitglieder erweitert und der Schutz der Rechte weiter ausgebaut werden sollte. Die Unterzeichner hatten von Anfang an ein großes Interesse daran, dass auch Japan der Konvention beitrat, da in diesem Land viele Texte aus europäischen Sprachen ohne Absprache mit den Texturhebern übersetzt und veröffentlicht wurden. Zwar waren japanische Verleger anfangs gegen einen solchen Beitritt, da sie dadurch Gewinneinbußen befürchteten, aber dennoch trat Japan am 18. April 1899 der Übereinkunft bei.
Die historische Forschung konzentrierte sich lange Zeit weitgehend auf die den europäischen Buchhandel dominierenden Staaten wie Frankreich, Deutschland und England und die Modernisierung, die die Berner Konvention und ihre Globalisierung aus eurozentrischer Perspektive betrachtet mit sich brachte. In der jüngeren Forschung zur Geschichte des Urheberrechts wird diese einseitige Betrachtung zunehmend kritisiert und die Notwendigkeit betont, private Akteure sowie Regionen außerhalb Europas verstärkt in den Fokus zu rücken. Während sich eine Anzahl von neueren Studien mit der Beteiligung des japanischen Staates am Globalisierungsprozess der Berner Konvention beschäftigt, bleibt die Mitwirkung japanischer nichtstaatlicher Akteure (insbesondere Verleger, Übersetzer und juristische Sachverständige) bisher unbeachtet. Obgleich private Akteure wie Oyaizu Kaname, Horiguchi Daigaku oder Yamada Saburō in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht persönlich auf den internationalen Revisionskonferenzen der Berner Konvention anwesend sein konnten und daher auf der Weltbühne praktisch unsichtbar waren, trugen die Petitionen, schriftlichen Meinungsäußerungen und das Fachwissen, das sie im Zeitraum zwischen 1897 und 1939 mit Bürokraten, privaten Verbänden und internationalen sowie nichtstaatlichen Organisationen teilten, maßgebend dazu bei, die internationalen Urheberrechtsnormen im Einklang mit den sich ständig ändernden sozialen und politischen Veränderungen auf nationaler und internationaler Ebene zu formen und zu modernisieren. Die Untersuchung der Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure im Bereich der geistigen Eigentumsrechte stellt nicht nur das staatszentrierte Paradigma in Frage, in dem der japanische Staat ab der Meiji-Zeit als Hauptakteur des Wandels und Fortschritts verstanden wird, sondern dezentralisiert zugleich die Rolle europäischer Akteure als Hauptakteure in der Globalisierung des internationalen Urheberrechts.
In der Diskussion wurde besprochen, dass die Richtung der Übersetzung vor allem von europäischen Sprachen ins Japanische stattfand und dass deshalb japanische Verleger Interesse an einer Sonderbehandlung Japans hatten, während die westlichen Akteure das Gegenteil favorisierten. Von westlicher Seite wurde Japan vor allem als ein Markt gesehen, wo Übersetzungen westlicher Werke vertrieben wurden, wofür Gebühren zu zahlen sein sollten. Weiterhin thematisiert wurden die im Vortrag verwandten Kategorien „staatlich, zivilgesellschaftlich, privat“, deren Definition und Abgrenzung schwierig ist. Schwierig ist dabei vor allem auch die Festlegung von Zugehörigkeiten von Einzelpersonen zu den jeweiligen Akteurskreisen, da die wichtigen Akteure oft sowohl als Unternehmer als auch als Politiker tätig waren.
Tristan Pfeil und Katja Schmidtpott: Kniffler Briefe – Die Online-Edition der internationalen Geschäftskorrespondenz von L. Kniffler & Co., 1859–1876
Den zweiten Vortrag hielten Tristan Pfeil und Katja Schmidtpott (beide Ruhr-Universität Bochum) zum Thema der „Kniffler Briefe: Die Online-Edition der internationalen Geschäftskorrespondenz von L. Kniffler & Co., 1859–1876“. Vorgestellt wurde darin das Projekt der Digitalisierung, Veröffentlichung und Übersetzung von Briefen aus dem deutschen Handelsunternehmen L. Kniffler & Co. Zuerst skizzierte Katja Schmidtpott die historischen Hintergründe der Firma, die von Louis Kniffler (1827–1888) als wahrscheinlich erstes deutsches Unternehmen 1859 in Nagasaki gegründet worden war. Das Unternehmen ist die langlebigste deutsche Firma in Japan und war das größte deutsche Japan-Handelshaus im 19. Jahrhundert und eines der ersten euro-amerikanischen Handelshäuser, das sich nach der Aufgabe der Isolationspolitik in Japan niederließ. Eine Erklärung für den Erfolg der Firma könnte sein, dass die Firma sich als Importhaus für ausländische Produkte nach Japan sah und den Schwerpunkt auf den Handel mit staatlichen Stellen, zum Beispiel im Bereich der Rüstung, legte.
Zur Rekonstruktion der Firmengeschichte soll im Rahmen des Projektes ein nahezu einzigartiges Quellenkonvolut bestehend aus der Geschäftskorrespondenz der Firma in Briefen aus dem Japangeschäft in Form einer digitalen Edition online publiziert werden. Dabei geht es nicht allein darum, die digitalisierten Quellen online zugänglich zu machen, sondern auch um die Transkription der Briefe in XML / TEI. Dadurch wird nicht nur dem an eine Edition (analog oder digital) gestellten Anspruch entsprochen, ein gewisses Mehr an Information über den Text hinaus bereitzustellen, sondern die Edition ist auch dauerhaft und plattformunabhängig speicherbar und erweiterbar.
Morgaine Setzer: Das Siebold-Archiv der Ruhr-Universität Bochum
Im Anschluss an die Vorträge stellte Morgaine Setzer (Ruhr-Universität Bochum) das Siebold-Archiv der Ruhr-Universität Bochum vor, in dem ein umfangreiches Korpus von Materialien aus dem Japan der Edo- und der Meiji-Zeit aufbewahrt wird. Diese Dokumente stammen aus den Nachlässen des deutschen Japanforschers Philipp Franz v. Siebold (1796–1866) und seines Sohnes Alexander (1846–1911). Die Sammlung umfasst die von Siebold für seine Forschungen genutzten Notizen, Manuskripte von ihm und seinen japanischen Mitarbeitern, Listen von Pflanzen und Tieren, Rechnungen, Zeichnungen und Karten. Anhand ausgewählter Einzelstücke konnten sich die Teilnehmer*innen des Initiativetreffens einen Überblick verschaffen über das breite Spektrum von Naturwissenschaften, Geographie, Geschichte, Ethnographie, Sprachwissenschaft und Religion, das die Dokumente abdecken. Sie sind Originalquellen aus dem frühen 19. Jahrhundert und bieten einzigartige Einblicke in das damals noch weitgehend verschlossene Japan.
Tino Schölz: Zur Entstehung der shōkon-Zeremonien im 19. Jahrhundert
Den ersten Vortrag des Sonntagvormittags hielt Tino Schölz „Zur Entstehung der shōkon-Zeremonien im 19. Jahrhundert“. Ziel des Vortrags war die Erläuterung der Entstehung der shōkon-Zeremonien, also ritualisierter Totengedenkfeiern für Gefallene an offiziellen Stätten, und der dafür vorgesehene Schreine in der Bakumatsu- und frühen Meiji-Zeit im Kontext der modernen Nationalstaatsbildung. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die vor- und frühmodernen Traditionsbestände des Umganges mit Kriegstoten, um die Kontinuitäten und Brüche der staatlichen Praxis seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen.
Zu Beginn des Vortrags beleuchtete Tino Schölz allgemein die Problematik des politischen Totenkults als eines komplexen sozialen Handelns politischer und gesellschaftlicher Akteure zur sinnhaften Deutung des Sterbens im Krieg. Der Totenkult erfüllt dabei unter anderem die Funktion der Identitätsstiftung für die Überlebenden, für die der Tod der Soldaten sinnhaft gedeutet, legitimiert und moralisch überhöht wird. Damit werden staatlich organisierte Gewaltanwendung sowie das Sterben und Töten für das Gemeinwesen als zentraler Bereich moderner Staatlichkeit definiert. Die Form des Totenkults in einer Gesellschaft verweist damit auf das Verhältnis von Individuum und Kollektiv sowie das Selbstverständnis dieses Kollektivs.
Das staatliche Gefallenengedenken ist darüber hinaus ein zentrales Konfliktfeld der japanischen Vergangenheitsthematisierung in der Gegenwart, das insbesondere durch die jährlich auftretenden Auseinandersetzungen um den Yasukuni-Schrein in Tōkyō symbolisiert wird. Dabei beruhen einige der heutigen innenpolitischen Konfliktlinien auf der Tatsache, dass der politische Totenkult im 19. Jahrhundert – im Gegensatz zu seinen primär säkularen westlichen Pendants – in Form der sogenannten shōkon-Zeremonien als religiös-jenseitige Sinnstiftung konzipiert und etabliert wurde.
Tino Schölz erläuterte die Praxis der shōkon-Zeremonien anhand von Fotografien und Beschreibungen aus Texten zu den Praktiken der Zeremonien, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert kaum geändert haben und noch heute durchgeführt werden. Nach einer ausführlichen Diskussion der Elemente der Zeremonie wandte er sich der Frage zu, warum die shōkon-Zeremonien im Kontext des Shintō entstanden sind, wo dieser doch eigentlich wenig mit Tod zu tun hat bzw. sich vom Tod als ultimativer Unreinheit fernhält. Ein klassischer Erklärungsansatz für die Entwicklung der shōkon-Zeremonien ist der Glaube an „rächende Geister“ (goryō bzw. onryō-Glaube), die man dadurch besänftigen kann, dass man sie in den Status einer Gottheit erhebt. Tino Schölz betont daneben aber weitere Traditionslinien wie die Entwicklung shintoistischer Toten- und Begräbnisriten, traditionelle Legitimationsmuster von Krieg oder die frühneuzeitliche Heldenverehrung etwa für Kusunoki Masashige. Die shintoistischen Totenriten sind tatsächlich eine Mischung aus neo-konfuzianischen und buddhistischen Praktiken mit den Kernelementen einer Erdbestattung in der Nacht, dem Herbeirufen der Totenseele und Einschreinung in einen Kultgegenstand, der Errichtung eines Ahnenschreins über dem Grab, der Ergebung der Seele zum Schutzgott der Familie, und schließlich der kontinuierlichen Verehrung durch die Familie.
Im Anschluss an den Vortrag entspann sich eine Diskussion über die Einteilung der Kriegstoten nach der Meiji-Restauration in kangun (kaisertreue Truppen) und zokugun (Rebellen) und der Definition davon, wer der jeweiligen Kategorie zuzurechnen sei. Diese Einteilung wurde von den Gewinnern der Auseinandersetzung vorgenommen und erfolgte nicht nur ideell, sondern vor allem auch in der Praxis, wie die Gewinner mit den Toten der Verlierer in bestrafender Absicht umgingen. Hier zeigt sich ein weiterer deutlicher Bruch mit den Traditionen der Vormoderne.
Aline Dreher: Pan-Asianismus in den Anfängen der Kolonialarchäologie Japans in Korea und der Mandschurei 1900–1930 – Archäologische Konzepte vor dem Hintergrund der Expansionspolitik Japans am Beispiel Yagi Sōzaburōs (1866–1942)
Den zweiten Vortrag am Sonntag hielt Aline Dreher (Ruhr-Uni Bochum) zum Thema „Pan-Asianismus in den Anfängen der Kolonialarchäologie Japans in Korea und der Mandschurei 1900–1930 – Archäologische Konzepte vor dem Hintergrund der Expansionspolitik Japans am Beispiel Yagi Sōzaburōs (1866–1942)“. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gelten als entscheidende Phase für die Institutionalisierung der japanischen Archäologie als wissenschaftliche Disziplin, da sich zu dieser Zeit neue methodische Standards etablierten und die Archäologie sich einen festen Platz im universitären System sichern konnte. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung in besonderem Maße durch das wachsende Interesse kultur- und bildungspolitischer Einrichtungen an archäologischen Forschungsarbeiten in den Kolonialgebieten Japans. Trotz dieser unbestrittenen Bedeutung transnationaler Entwicklungszusammenhänge in ihrer formativen Phase des frühen 20. Jahrhunderts ist die bisherige wissenschaftshistorische Auseinandersetzung mit der Frühgeschichte der Archäologie in Japan defizitär: Neben Publikationen, die sich mit dem rein methodisch Aspekt der Kolonialforschung auseinandersetzen, stehen Ansätze, die zwar die Tragweite kolonialpolitischer Einflussfaktoren auf einzelne Institutionen untersuchen, jedoch ohne der Bedeutung von ideologischen Elementen für die Motivation und Praxis der Forschung und der Verwobenheit mit politischen Diskursen ausreichend Rechnung zu tragen. Für ein umfassendes Verständnis der Entwicklung der Archäologie in Japan ist jedoch die Auseinandersetzung sowohl mit den Strukturen und Zielsetzungen der beteiligten Institutionen als auch der Motivation einzelner Wissenschaftler vor dem Hintergrund der Kolonialpolitik Japans und der damit einhergehenden ideologischen Ausrichtungen essenziell.
Um der Frage nachzugehen, welche Rolle die Anfang des 20. Jahrhunderts noch relativ junge wissenschaftliche Disziplin der Archäologie innerhalb der Expansionspolitik Japans gespielt hat und inwieweit sich ideologische Elemente des „Pan-Asianismus“ sowie „rassentheoretische Ansätze“ in den wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Archäologie widerspiegeln, beschäftigt sich die Masterarbeit von Aline Dreher, die in diesem Vortrag vorgestellt wurde, mit den Untersuchungen und Forschungsarbeiten des einflussreichen Kolonialarchäologen Yagi Sōzaburō (1866–1942) und analysiert diese mit Berücksichtigung des im Hintergrund agierenden institutionellen Systems sowie des archäologisch-politischen Diskurses.
Dabei wird insbesondere auch untersucht, inwieweit sich die zu jener Zeit unter den führenden Gelehrten etablierte Idee des Nissen dōsoron (Theorie der gemeinsamen Vorfahren von Japanern und Koreanern) sowie Ergebnisse der Mansenshi-Studien (Forschungen zur gemeinsamen Geschichte von Mandschuren und Koreanern) in den Schriften Yagis wiederfinden. In der Vorstellung eines gemeinsamen „rassischen“ und kulturellen Ursprungs von Koreanern, Mandschuren und Japanern und einer kulturell bedingten Überlegenheit der Japaner, sowohl aus historischer als auch aus archäologischer Perspektive, sind eindeutig Elemente der Ideologie des Pan-Asianismus auszumachen.
Die anschließende Diskussion vertiefte die Thematik der Nutzung archäologischer Ergebnisse für politische Ziele. Yagi nahm Teil am internationalen Austausch von Kolonialarchäologen, in deren Kreisen sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von der Anthropologie beeinflusste Rassentheorien etabliert hatten. In seiner Schrift zur Archäologie in der Mandschurei (Manshū kōkogaku) aus dem Jahr 1928 lehnt Yagi die Theorie einer gemeinsamen Ursprungsrasse zwar konsequent ab. Allerdings geht die Entwicklung der Archäologie in Japan mit der Erforschung der Ainu einher, die im 19. Jahrhundert in das japanische Narrative des Kokutai integriert werden mussten. Anthropologische und ethnographische Methoden und Ergebnisse wurden von der sich neu entwickelnden japanischen Archäologie als Hintergrundwissen genutzt und in der Erforschung der ortsansässigen Bevölkerung in den Gebieten außerhalb Japans eingesetzt. Sowohl die Institutionen als auch die Forschungsinhalte der Archäologie waren in hohem Maße an die Politik des japanischen Nationalstaates gebunden. Zudem nahmen viele Archäologen die neu geschaffenen Karrieremöglichkeiten im Dienst der Kolonialregierungen war, verlegten ihr Betätigungsfeld auf die im Fokus der expansionistischen Bestrebungen Japans stehenden Gebiete in Nordostasien und versuchten durch den archäologischen Beweis einer gemeinsamen Ursprungszivilisation in Korea und der Mandschurei die Expansionspolitik auf dem asiatischen Festland zu legitimieren.
Shin Kimoto: Die Kulturhistorische Problematik in der Rezeption Nietzsches in Japan
Beim letzten Vortrag des Treffens sprach Shin Kimoto (Ritsumeikan Universität Kyōto/Ōsaka) über „Die Kulturhistorische Problematik in der Rezeption Nietzsches in Japan“. Darin ging er der Frage nach den Gründen für die Popularität des Denkers Nietzsche nach. In Japan, wo seit der Meiji-Zeit eine breite Aufnahme europäischer Kulturgüter begann und viele im Westen wichtige Autoren ins Japanische übersetzt wurden, sind die Werke von Nietzsche bei namhaften japanischen Verlagen erschienen und erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Dabei konnte das Weltbild Nietzsches in Ostasien gar nicht so provozierend wie in Europa wirken. Dort hatte seine Philosophie, in der er die elementaren Komponenten der europäischen Geistesgeschichte wie Gott, Substanz und Moral in Frage stellte und sich stattdessen einer altgriechischen Auffassung vom Werden und ständiger Veränderung wie in Heraklits „Panta rhei“ (alles fließt) anschloss, große Sprengkraft und manifestiert die Existenz einer gottlosen Wahrheit. In Ostasien hingegen herrscht ohnehin eine historisch gewachsene Auffassung vom Werden, zum Beispiel in der buddhistischen Lehre vom „Alles ist vergänglich“ vor. Aus dieser hat sich in Japan eine ästhetische Sensibilität entfaltet, mit der man heute noch ergriffen über die Eitelkeit der Welt klagt.
Unter diesen Umständen liegt es nahe, dass Nietzsches “Panta rhei” in Japan unbewusst mit “Alles ist vergänglich” verwechselt wird. Allerdings sind die Konzepte des “Panta rhei” und des “Alles ist vergänglich” in ihrer Verneinung von Substanz nur nach außen hin ähnlich. Im Falle von Nietzsches Rezeption in Japan bedeutet das, dass seine Philosophie in Japan „buddhistisch ästhetisch verharmlost“ wird. Zur Unterstützung für diese These diskutierte Kimoto die Nietzsche-Rezeption verschiedener wichtiger japanischer Intellektueller wie Natsume Sōseki, Mori Ōgai, Watsuji Tetsurō und schließlich den Dichter Hagiwara Sakutarō , die sich alle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Nietzsche auseinandergesetzt haben. Gerade Hagiwara biete ein klares Beispiel dafür, wie schwer Nietzsche als solcher in Japan zu begreifen sei. Er lässt in einer Bearbeitung von Zarathustras Vorrede seinen Helden sagen, wo es im Original “Gott ist tot” heißt: “Die Götter sind tot.” Die Abwesenheit des christlichen Gottes hat für ihn keinen Sinn, ebenso wenig der Gedanke des “Panta rhei” als Verneinung Gottes. So schloss Kimoto, dass die Intellektuellen im modernen Japan in den meisten Fällen an Nietzsches Kerngedanken vorbei argumentierten, denn ihnen fehle der Boden, auf dem sie sich mit ihm wirklich auseinandersetzen konnten. Als einzigen Ausnahmefall nannte Kimoto Nishitani Keiji, der auf der Beschäftigung mit Nietzsche seine Philosophie des Nihilismus aufbaute.
Das nächste 34. Treffen der Initiative wird im November an der FU Berlin stattfinden und von Matthias Zachmann organisiert, der genaue Termin wird noch bekannt gegeben.
(Anke Scherer)
35. Treffen im Online-Format, 28.–29. November 2020
Das 35. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 28. und 29. November 2020 organisiert von Tomohide Ito und Daniel Gerichhausen (beide Universität Bonn) in digitaler Form statt.
Vorträge:
Patrick Elmer (Wien / Ōsaka): Aufschlüsse über die Lage von Yamatai durch Forschung zu den Kumaso und Hayato
Nach der Begrüßung und Einführung stellte Patrick Elmer von der Universität Wien sein Dissertationsprojekt vor. Yamatai, die erste in schriftlichen Quellen erwähnte japanische Hauptstadt, eindeutig zu lokalisieren, sei bisher nicht gelungen. Eine Wegbeschreibung der Seeroute zur Stadt Yamatai, die im chinesischen Gishi-Wajinden beschrieben wird, führte in der Forschung zu zwei vorherrschenden Theorien bezüglich ihrer Lage: Die Stadt wird zumeist entweder auf Kyūshū oder aber in der Gegend des heutigen Nara vermutet. Aufgrund voneinander abweichender Längeneinheiten im Gishi-Wajinden und eventueller Fehler im Dokument sei eine räumliche Verortung allein auf Grundlage der Wegbeschreibung schwierig. In seinem Vortrag erläuterte Patrick Elmer seinen neuen Ansatz, Yamatai in Relation zu dem, ebenfalls in Schriftstücken erwähnten, verfeindeten Stamm der Kona zu lokalisieren. Hierbei identifiziert er durch eine neue, linguistische Interpretation der Materialien das Gebiet der Kona mit dem Kuma-Gebiet im Süden der heutigen Präfektur Kumamoto. Die Sichtung des Nihon-Shoki ergibt, dass in diesem Gebiet während der späten Yayoi-Zeit der Volkstamm der Kumaso vertreten war. Dieser wurde nach der Eingliederung von Süd-Kyūshū in das Yamato-Reich in der Kofun-Zeit als Hayato bezeichnet. Aufgrund einer archäologischen Untersuchung der Grabstätten der Kumaso bzw. Hayato, welche ergab, dass die Kuma im Westen Kyūshūs zu verorten sind, stellt Patrick Elmer die Theorie auf, Yamatai habe in Nordwest-Kyūshū gelegen. Als Ausblick auf seine weitere Forschung nennt er die eingehendere Beschäftigung mit den Kumaso und Hayato auf historischer und historisch-sprachwissenschaftlicher Ebene, die zum Verständnis der Entwicklung des japanischen Staates beitragen soll.
In der Diskussion wurde die Frage nach den Methoden der Untersuchung diskutiert. Ein besonderes Augenmerk lag hierbei auf der Frage nach der Vereinbarkeit archäologischer Funde mit den Schriftquellen und auf der Verlässlichkeit historischer Dokumente. Außerdem wurde in Bezug auf die weiteren Forschungsansätze Patrick Elmers nach dessen geplanten Methoden zur linguistischen Einordnung des Volkstammes der Kumaso/Hayato gefragt.
Melina Wache (Bochum): Die japanische Insel Okinoshima und maritime Beziehungen in Ostasien im 9. und 10. Jahrhundert
Anschließend stellte Melina Wache von der Universität Bochum in ihrem Beitrag das Thema ihrer Masterarbeit vor, in der sie sich mit dem Ritualwesen auf der Insel vor Fukuoka beschäftigte. Ihr Fokus liegt dabei auf den Gründen für das Verschwinden dieses Brauchtums.
Okinoshima wurde vom 4. bis 9. Jahrhundert als Ritualstätte genutzt, um dort für sichere Seefahrt zu beten. Auf der Insel finden sich zahlreiche archäologische Funde in Form von Votivgaben, was Okinoshima 2017 den Status als UNESCO-Welterbe einbrachte. Das Ende der Rituale fällt etwa mit dem Ende der Gesandtschaften in der Tang-Dynastie (607–838) zusammen und wird häufig mit diesem in Verbindung gesetzt. In ihrer Arbeit diskutiert Melina Wache weitere Faktoren für den Bedeutungsverlust der Insel als Ritualstätte. Eine entscheidende Rolle habe hierbei der Wandel der Küstenregion gespielt, die an politischer Bedeutung verlor und sich als Handelsstätte etablierte. Dies lässt sich anhand von Veränderungen in den Votivgaben nachvollziehen. Der Fokus des neu entstandenen Handels lag auf dem Import. Da also weniger eigene Schiffe in See stachen, verlor die Insel zunehmend an Bedeutung. Zugleich verlagerte sich das politische Zentrum Japans; die Seerouten für politische Gesandtschaften führten nun über die Seto-Inlandsee. Okinoshima weiterhin anzusteuern hätte einen enormen Umweg bedeutet.
In der Diskussion wurde die Trennung von wirtschaftlicher und politischer Relevanz der Küstengegend Fukuokas kritisiert. Weiterhin wurden die Rolle der Insel Okinoshima in der Moderne und aktuelle Forschungsansätze diskutiert.
Bastian Voigtmann (Frankfurt): Jahr eins: Kommentare zum Kaiserlichen Erziehungsedikt, 1890–91
In seinem Beitrag stellte Bastian Voigtmann von der Universität Frankfurt sein Dissertationsprojekt vor. Mithilfe einer quantitativen Analyse soll hierbei die Kommentarliteratur zum Kaiserlichen Erziehungsedikt untersucht werden, welches etwa in der Mitte der Meiji-Zeit als Grundlage für den Moralkundeunterricht angefertigt wurde. Dieses besteht zu Teilen aus den Kaiserlichen Anweisungen für Soldaten und wird als eine Ursache des japanischen Militarismus bewertet, dessen Einflüsse bis zum Ende des Pazifikkrieges reichen. Dem japanischen Volk werden darin in knappen 315 Zeichen einige Tugenden wie die Treue gegenüber dem Herrscher, die Liebe zu den Eltern und die Aufopferungsbereitschaft für das Vaterland nahegelegt. Von der Veröffentlichung des Edikts bis zum Ende der Meiji-Zeit wurden mindestens 168 Kommentare zu diesem veröffentlicht, wobei besonders die Diversität der Autorschaft ins Auge fiele. Um in der Kommentarliteratur ideologische Strömungen und Autorengruppen auszumachen, untersucht Bastian Voigtmann das semantische Netzwerk und die relative Verwendung bestimmter Worte. Hierbei bedient er sich verschiedener Algorithmen, welche die Texte in Cluster unterteilen und gemeinsame sprachliche Merkmale und verbindende Topics innerhalb der Cluster hervorheben. Er betont hierbei, dieser neue Ansatz der Geschichtswissenschaft sei nicht unbedingt dafür da, nur Fragen zu beantworten, sondern biete vielmehr durch das Aufwerfen neuer Fragestellungen eine Erweiterung zu bisherigen Herangehensweisen.
In der Diskussion wurde nach dem Erkenntnisinteresse des Referenten gefragt. Weiterhin wurde kritisiert, die Ergebnisse der quantitativen Auswertung seien die Erwartbaren gewesen. Außerdem wurde die Frage diskutiert, ob die Werke alle als gleichwertig zu behandeln seien, da nicht zu allen Kommentarwerken Daten über die Auflagestärke oder Verbreitung vorhanden seien.
Fritz Schumann (Berlin): Giftgas und Kaninchen – Japanische Chemiewaffen im 2. Weltkrieg und die Geschichte von Ōkunoshima (Stand 2020)
Zum Abschluss des Vortragsprogramms am Samstag stellte der Journalist, Regisseur und Autor Fritz Schumann seine Nachforschungen über die Geschichte der Insel Ōkunoshima in der Seto-Inlandsee vor. Auf dieser wurde im Verlauf des zweiten Weltkrieges ein Großteil der etwa 9000 Tonnen chemischer Kampfstoffe Japans hergestellt. Mit einem Höchstwert von etwa 6000 Arbeitern, die zum Teil aus Zwangsarbeitern und Kindern bestanden, beherbergte die Insel die mit Abstand größte Giftgasfabrik Asiens. Im Laufe seiner Recherche gelang es Fritz Schumann, einige Zeitzeugen des Geschehens ausfindig zu machen und zu interviewen. Da die Vorkommnisse in Ōkunoshima während des Zweiten Weltkrieges der Geheimhaltung unterlagen, stellen diese Zeitzeugenberichte eine umso wichtigere Quelle dar. Zwischenergebnis seiner fortlaufenden Arbeit ist der 2019 fertiggestellte Dokumentar-Kurzfilm Ōkunoshima – Japans Gift, in dem Fritz Schumann die Begegnungen mit diesen Interviewpartnern festhält. Sein Fokus liegt dabei unter anderem auf dem Einsatz der Chemiewaffen in China, den Japan bis heute abstreitet. Noch immer liegen schätzungsweise 300.000 Behältnisse mit Giftgas in China vergraben. Die japanische Regierung erklärte sich 1999 für den Transport dieser Waffen verantwortlich und verpflichtete sich zu ihrer Entsorgung. Einen weiteren Punkt in Schumanns Recherche stellt die Beteiligung Deutschlands an der Entwicklung von Chemiewaffen in Japan dar.
1963 wurde die Ōkunoshima von Regierungsseite aus als Ferieninsel eröffnet. Es wurden ein Hotel und mehrere Tennisplätze eingerichtet. Außerdem wurden fünf Kaninchen ausgesetzt, die sich aufgrund mangelnder Prädatoren stark vermehrten. Heutzutage lockt die mittlerweile etwa 700 Tiere umfassende Population viele Touristen an und hat der Insel den Namen „Häschen-Insel“ eingebracht. Durch seine Dokumentation möchte Fritz Schumann auf die zum Teil ungenau kommunizierte Vergangenheit des Ortes aufmerksam machen und Betroffenen eine Stimme verleihen.
In der Diskussion wurden dem Journalisten weitere Ansätze für seine Recherche nahgelegt. Des Weiteren wurde darüber diskutiert, inwiefern die Auseinandersetzung mit neuen Kriegsmethoden seitens der japanischen Regierung im zweiten Weltkrieg eine Besonderheit darstellte.
Jana Aresin (Erlangen-Nürnberg): Demokratie, Konsum und Frauenbilder in Japanischen und US-amerikanischen Frauenzeitschriften im frühen Kalten Krieg (1945–1960)
Im ersten Vortrag am Sonntag stellte Jana Aresin einen Zwischenstand ihres Dissertationsvorhabens vor, das sie im Rahmen des Forschungsprojekts „Reeducation Revisited: Transnational and Comparative Perspectives on the Post-World War II Period in the US, Japan, and Germany“ durchführt.
Zu Beginn definierte sie den in der Wissenschaft kontroversen Begriff der „Umerziehung“ (reeducation) seitens der US-Besatzung Japans als Projekt, um militaristische Ideologien in der Bevölkerung zu entfernen und das Bildungssystem sowie die Medien zu reformieren. Hierbei nahm die Rolle der Frau eine zentrale Stellung ein. Ihre Doppelfunktion als Erzieherin und Konsumentin, bzw. Hausfrau und Lohnarbeiterin wird anhand von Frauenbildern in japanischen und US-amerikanischen Frauenzeitschriften im Zeitraum 1945–1960 analysiert, um herauszuarbeiten, inwieweit sich der amerikanische Diskurs der „domesticity“ in japanischen Zeitschriften widerspiegelte. Insbesondere wird dabei die Verknüpfung von Demokratie und Konsum analysiert, der die Überlegenheit des Kapitalismus gegenüber dem Kommunismus repräsentierte.
Erste Auswertungen von Zeitschriften der 1940er Jahre zeigen, dass das Frauenbild in US-amerikanischen Zeitschriften vor allem das der Hausfrau war. Ein häufiges Narrativ ist die Frau in ihrer Rolle als Erzieherin. Obgleich ihr ein wirtschaftliches Handeln über den Konsum im Haus zugesprochen wird, basiere dieser auf dem Lohn des Mannes. In japanischen Zeitschriften wird ebenfalls die pazifistische Gesinnung der Frau sowie ihre Rolle als Erzieherin der Kinder hervorgehoben. Liberale Zeitschriften hingegen thematisieren die Arbeitsteilung zwischen Haus- und Lohnarbeit. Im nächsten Schritt wird die Untersuchung eines Angleichungsprozesses japanischer Artikel an die US-amerikanischen Artikel in den 1950er Jahren erfolgen.
Bojena Divaeva (Bonn): Stirb mit mir, Schwester – Shinjū als Ausweg unerfüllter Liebe?
Die Studentin an der Universität Bonn stellte das Thema ihrer Masterarbeit vor. Mittels einer Diskursanalyse und einer qualitativen Inhaltsanalyse wird eine kritische Bewertung der dargestellten Art der Beziehung zweier Frauen, die Doppelselbstmord (shinjū) begehen, in verschiedenen Medien erarbeitet. Ausgehend von einem real vorgefallenen Doppelselbstmord zweier Oberschülerinnen einer Mädchenschule in der Stadt Niigata und der Darstellung ihrer Beziehung platonischer, rein freundschaftlicher Art untersucht Bojena Divaeva unter Zuhilfenahme von Darstellungen u.a. in Literatur und Film homosexuelle Liebe in Japan von der Meiji- bis zur frühen Shōwa-Zeit. Neben der Analyse der Darstellungen ist die Interpretation von Schlüsselbegriffen, ihren Konnotationen und zentralen Konzepten notwendig, um diese in das kulturelle Verständnis dieser Epochen einordnen zu können.
Mit ihrer Masterarbeit ergänzt Bojena Divaeva das Thema aus der Perspektive der Genderforschung und „Queer“-studien, deren Ansätze bisher wenig Beachtung in dieser Thematik erhielten. Darüber hinaus leistet sie einen Beitrag zur Erforschung gleichgeschlechtlicher Liebe zwischen Frauen, die weit weniger erforscht sei als die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern.
Eine Diskussionsteilnehmerin erklärte aus psychoanalytischer Perspektive, dass weibliche Homosexualität nie im Fokus stehe, weil sie die Geschlechteridentität nicht so stark gefährde, wie es bei Männern der Fall sei.
Klaus J. Friese (Zürich / München): Japanische Kriegsmotiv-Kimonos: Spiegel einer nationalen Identität?
Im dritten Vortrag beschäftigte sich Klaus J. Friese mit Kriegsmotiven bedruckter Kleidungsstücke, die zwischen 1894–1942 hergestellt wurden. Getragen wurden die Textilien von Männern, Frauen und besonders in der Shōwa-Zeit von Kindern. Er distanziert sich mit seiner Arbeit von ihrer Bedeutung als Mittel der Propaganda (nach Dr. Jacqueline Atkins) und sieht stattdessen ihre Bedeutung in der Identitätsdarstellung und als Teil der Alltagskultur. „Identität“ ist dabei seiner Auffassung nach ein Begriff, der im Plural zu verstehen sei. Anhand exemplarischer Kleidungsstücke zu jeweils dem Chinesisch-Japanischen Krieg (1894–95), dem Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) und dem Asiatisch-Pazifischen Krieg (1931–1945) erklärte er verschiedene Identitätsdarstellungen: historische Identität, Helden‑, Konsumenten- und Gender-Identität sowie spacial identity. Ausdruck dessen sind diverse Motive auf traditionellen japanischen Kleidungsstücken.
Die Besonderheit von Textilien sei, dass sie innerhalb der materiellen Kultur eine eigene agency aufwiesen. Das Tragen am Körper bilde nicht nur eine Identität ab, sondern verstärke, verändere und schaffe zudem eine Identität. Damit dienten japanische Kriegsmotiv-Kimonos als Fallbeispiel, um auf die Auswirkung von materieller Kultur auf die Gesellschaft aufmerksam zu machen.
Die Diskussion im Anschluss zeigte Interesse daran, welcher Teil der Bevölkerung diese Textilien gekauft habe, jedoch ließ sich die Frage anhand der Quellenlage nicht beantworten. Dennoch identifiziert Klaus J. Friese diese Kleidungsstücke als Modeartikel, die auf die Mittelschicht abzielten. Darüber hinaus wurde ihm nahegelegt, Medienkapitalismus und parallele Entwicklungen zu beachten. Es sei wichtig zu betrachten, welche Verkaufslogik und Vernetzung hinter der Produktion dieser Kleidung stehe.
Christoph End (Rottenburg am Neckar): Deutsch-japanische forstwissenschaftliche Begegnungen zwischen 1868 und 1914 im Spiegel ihrer Protagonisten
Im vierten Vortrag stellte Christian End vor, warum deutsch-japanische forstwissenschaftliche Begegnungen zwischen 1868 und 1914 von gegenwärtiger forstwissenschaftlicher Relevanz seien und wie die bislang unzulänglich untersuchte Forstwirtschaft in Japan einen Beitrag zur historischen Japanforschung liefern könne. Hierfür analysiert er unterschiedliche japanische Quellen, wie wissenschaftliche Artikel, Register von Akademien und Universitäten, Akten etc., um anhand biographischer Informationen zu Akteuren der Forstwirtschaft Austauschbeziehungen und Wissenstransfer aufzuzeigen.
Die bisherige Untersuchung zeigte, dass Mitte des 19. Jahrhunderts die Forstwirtschaft in Frankreich, Österreich und besonders Deutschland seitens Japans als fortschrittlich wahrgenommen wurde und eine nötige Expertise für die Nutzung eigener Wälder liefern konnte. Im Zuge dessen lehrten vornehmlich deutsche Wissenschaftler (Mayr, 1888–1891; Grasmann, 1887–1895 und Hefele, 1900–1903) von der Universität München an japanischen Akademien und der Kaiserlichen Universität Tokyo. Der preußische Forstbeamte Hermann Schilling war sogar als Berater für die kaiserlichen Wälder zwischen 1899 und 1903 eingestellt. Ebenso kamen Japaner für ein forstwissenschaftliches Studium nach Deutschland, wie beispielsweise der ehemalige Rektor der Land- und Forstwirtschaftlichen Akademie in Komaba (Tōkyō) Uemura Katsuji. Dieser wissenschaftliche Austausch zeigt sich in auf Deutsch verfassten wissenschaftlichen Artikeln oder deutschen Literaturverweisen in japanischen Studien.
Als Beispiel einer Aufforstung nach dem „deutschen“ Prinzip des Dauerwaldes wurde der Meiji Shrine Inner Precinct Forest Plan von 1921 für ein Waldstück am Meiji-Schrein vorgestellt, der jedoch weniger forstlich relevante Bestände aufweist. Christian Ends Anliegen ist die Verbindung dieser historischen Forschung mit aktuellen Themen der Forstwirtschaft. An der Hochschule Rottenburg, an der er seit 2014 tätig ist, arbeitet er in japanbezogenen, forstwissenschaftlichen Projekten in enger Zusammenarbeit mit vier japanischen Partnerschulen zur Entwicklung der Wälder.
In der Diskussion wurde die Frage gestellt, weshalb Deutschland Schwerpunkt dieses Austausches war und ob auch Adelsfamilien Experten anstellten, weil sie viel in Forstwirtschaft investierten. Bisher berichten die Quellen von keinem Deutschen, der bei einer Adelsfamilie angestellt gewesen sei, jedoch seien u.a. Sprösslinge des Adels Studenten in Deutschland gewesen. Den Grund für die führende Rolle deutscher Ausbildung sieht Christoph End in der hohen Anzahl der Ausbildungsstätten in Deutschland. Auch koloniale Forstwirtschaft kam in der Diskussion zur Sprache. Hier orientierte sich Japan an deutschen Kolonien, wie etwa Tsingtao.
Bernhard Mann (Koblenz): Die Public-Health-Entwicklung in Japan. Antworten auf die zeitgeschichtlichen Herausforderungen einer Demokratie in der Krise?
Im letzten Vortrag trug Bernhard Mann, Professor für Gesundheits- und Sozialmanagement, seinen Vortrag zur Entwicklung des Gesundheitswesens in Japan und dessen Wirkung auf die Demokratie vor. Hierbei unterstützt er die These vom Zusammenhang von Wohlstand, Gesundheit und Demokratie (James W. McGuire) und orientiert sich am systemtheoretischen Ansatz von Morikawa Takemitsu, wonach u.a. Gesundheit ein Mittel zur Förderung der Demokratie sei.
Bernhard Mann arbeitet mit dem englischen Begriff Public Health, den er als systematisierte und auf Fakten basierte Bevölkerungsmedizin definiert. In Japan wurde die Public Health Association (JPHA) 1925 gegründet. Diese Vereinigung hatte ihre Vorläufer bereits 1881. Dass Japan die international gesündeste Gesellschaft sei, stellte er am Beispiel der 38 Ziele der WHO vor, die Japan seit ihrem Beitritt 1951 ganz besonders ernst umsetze. Als ein weiteres Argument dienten die Höflichkeit und Wertschätzung im Alltag, die als gesundheitsfördernder, psycho-soziologischer Ansatz der japanischen Gesellschaft fungiere.
In der nachfolgenden Diskussion wurde Bernhard Mann darauf hingewiesen, dass an einigen Stellen seines Vortrags kritische Untertöne fehlten. Sein Fokus auf die Rhetorik der japanischen Regierung spiegele sich weniger in der gelebten Realität wider.
Das nächste, 36. Treffen der Initiative wird am 5. und 6. Juni 2021 in einem digitalen Format stattfinden und von Tino Schölz und Maik Hendrik Sprotte (beide FU Berlin) organisiert.
(Jasmin Pour Fathieh und Melina Wache)