Das 30. Treffen der Initiative zur historischen Japanforschung fand am 25. und 26. November 2017 an der Staatsbibliothek zu Berlin und der Freien Universität Berlin statt.
Anwesend waren: Niels H. Bader (Berlin), Glenn Bauer (Heidelberg), Ulrich Brandenburg (Zürich), Lena Bultmann (Hamburg), Aline Dreher (Bochum), Christian Dunkel (Berlin), Michael Facius (Berlin), Lisette Gebhardt (Frankfurt), Elena Giannoulis (Berlin), Oliver Benjamin Hemmerle (Grenoble / Mannheim), Irmela Hijiya-Kirschnereit (Berlin), Nadja Kischka-Wellhäußer (Bonn), Verena Klein (Bochum), Antje Klippstein (Berlin), Franziska Klorer (Baden-Baden), Ami Kobayashi (Berlin), Matthias Koch (Berlin), Stefan Köck (Wien), Robert Kraft (Leipzig), Barbara Markert (Berlin), Vera Markert (Berlin), Martha-Christine Menzel (Berlin), Fuyuko Miwa (Berlin), Henriette Mühlmann (Hamburg), Miya Nakamura (Berlin), Jakub Poprawa (Bochum / Berlin), Steffi Richter (Leipzig), Matthias K. Scheer (Hamburg), Anke Scherer (Köln), Katja Schmidtpott (Bochum), Tino Schölz (Halle), Fritz Schumann (Berlin), Wolfgang Seifert (Heidelberg), Maik Hendrik Sprotte (Berlin), Julia Süße (Berlin), Rei Tanaka (Berlin), Wolfgang Gerhard Thiele (Berlin), Alexander Toby Wolf (Berlin), Urs Matthias Zachmann (Berlin), Dinah Zank (Berlin)
Vorträge:
Christian Dunkel (Berlin): Der Fachinformationsdienst CrossAsia.
Zu Beginn der Veranstaltung stellte Christian Dunkel, Fachreferent für Japan an der Staatsbibliothek Berlin, den Fachinformationsdienst CrossAsia vor. Nach der Abschaffung der durch die DFG geförderten Sondersammelgebiete im deutschen Bibliothekswesen betreut die Ostasienabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin zusammen mit ihren Kooperationspartnern, der Universitätsbibliothek und dem Südasien-Institut der Universität Heidelberg, seit Januar 2016 den von der DFG geförderten Fachinformationsdienst „CrossAsia – FID Asien“. Das bestehende Dienstleistungsangebot umfasst neben der Fernleihe von originalsprachlicher Literatur aus Ostasien über den so genannten „Blauen Leihverkehr“ u.a. den Zugang zu lizenzpflichtigen Datenbanken über das Portal crossasia.org für registrierte Nutzer*innen, die Lizenzierung neuer Datenbanken, einen nachfrageorientierten Digitalisierungsservice, die Integration der NDL-OPAC Daten und die Möglichkeit direkter Anschaffungsvorschläge. Da die Ostasienabteilung ihren Bestandsaufbau auch an den Interessen der Nutzerinnen und Nutzer orientiert, ermutigt Christian Dunkel die Anwesenden ausdrücklich, benötigte Literatur in Form von Anschaffungsvorschlägen oder Bestellungen über den Blauen Leihverkehr zu machen.
Robert Kraft (Leipzig): Das Missionsdenken des Philosophen Miyake Setsurei.
Robert Kraft (Universität Leipzig) hielt den zweiten Vortrag über das Missionsdenken des Philosophen Miyake Setsurei (*1860-†1945) in den 20er Jahren der Meiji-Zeit (1887–1896). Bei diesem Missionsdenken („Mission“ als Übersetzung der japanischen Ausdrücke tenshoku 天職/ ninmu 任務/ shimei 使命/ shokubun 職分) handelt es sich der Definition Robert Krafts zufolge um die Idee, die Japaner müssten einen Beitrag zur Welt leisten, zu dem sie aufgrund bestimmter japanischer Charakteristika befähigt und zugleich verpflichtet seien. In Anlehnung an die sprachphilosophisch inspirierte Ideengeschichte Quentin Skinners und die Diskurstheorie Michel Foucaults geht Robert Kraft in seiner Untersuchung den Fragen nach, was bestimmte Akteure in konkreten historischen Konstellationen mit der Artikulation dieser Missionsidee zu tun intendierten (Skinner: Illokution), in welche diskursiven Strukturen das Ganze eingebettet war, und wie sich das trotz weitgehend gleichbleibender inhärenter Logik der Idee im historischen Verlauf veränderte. Ziel ist es, mithilfe einer Verknüpfung ideengeschichtlicher und diskurstheoretischer Ansätze das Denken individualisierter Akteure in diskursiven Zusammenhängen zu erfassen, wobei Robert Kraft sein Vorgehen ausdrücklich weder als Ideengeschichte à la Skinner noch als Diskursanalyse à la Foucault versteht. Vielmehr erarbeite er sich im Rekurs auf die Arbeiten dieser beiden einen Begriffskorpus, der es ihm ermöglichen soll, das Missionsdenken entsprechend seiner Fragestellungen zu greifen und zu begreifen.
Nach einem kurzen Überblick über diese theoretisch-methodologischen Erwägungen stellte Robert Kraft zunächst anhand ausgewählter Texte das Missionsdenken Miyake Setsureis inhaltlich vor und widmete sich dann einer Zusammenfassung des sprachlichen Kontextes. Im Zuge seiner Ausführungen wies er auf den einen zivilisierten Westen und einen unzivilisierten Orient dichotomisch gegenüberstellenden Sprachgebrauch in Europa und den USA hin (Orientalismus), der im Japan der frühen und mittleren Meiji-Zeit in ähnlicher Form übernommen wurde (orientalistische Heteronomie des Selbstverständnisses) und sich realpolitisch in den Verwestlichungsbemühungen der Meiji-Regierung ausdrückte. Die Seikyōsha, in der Miyake eine leitende Position innehatte, vertrat in Opposition dagegen einen nationalistischen Standpunkt, der u. a. mithilfe des Missionskonzepts artikuliert wurde. Robert Kraft identifizierte daher die Herausforderung der hegemonialen Position im Zivilisationsdiskurs als Illokution des Missionskonzepts Mitte der Meiji 20er Jahre. Jedoch wurde der Nationalismus der Seikyōsha spätestens ab 1891 zu einem Asianismus erweitert, der Japan eine führende Rolle in Asien zugestand und eine Expansion des Landes zwecks Erfüllung seiner Mission implizierte. Schließlich verschob sich Robert Kraft zufolge die Illokution des Missionskonzepts weg von der Herausforderung eines orientalistisch geprägten Zivilisationsdiskurses hin zur Rechtfertigung des Krieges Japans gegen China in den Jahren 1894/95. Abschließend gab Robert Kraft einige Einblicke in die Umstände der Ausbildung Miyakes Missionsdenkens sowie seiner Artikulation bzw. Kommunikation nach außen, um den zuvor herausgestellten sprachlichen Kontext weiter gesellschaftlich und politisch zu kontextualisieren.
In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion wurde zunächst kontrovers diskutiert, ob die vorgestellte Untersuchung grundsätzlich zu deskriptiv sei. Dazu erklärte Robert Kraft, dass sich sein Vorgehen mitnichten auf eine bloße Beschreibung dessen beschränke, was in den historischen Quellen geschrieben steht, sondern darüber hinaus der Frage nachgehe, was Miyake mit seinen Aussagen zu tun gedacht haben könnte. Die Kritik, dem Anspruch einer Diskursanalyse nicht gerecht zu werden, wies er zurück, indem er nochmals betonte, dass er keine Diskursanalyse machen wolle, wie Foucault sie vorschlug, sondern er seine Arbeit als eine im Kern ideengeschichtliche verstehe, die versuche, frühere Ansätze Foucaults wie auch Skinners produktiv für die eigenen Fragestellungen zu verarbeiten. Die Nachfrage, ob die Missionsidee Miyakes tatsächlich im Kontext von Zivilisationsdiskurs und Nationalismus zu verstehen sei oder nicht doch vielmehr im Kontext von Imperialismus, beantwortete Robert Kraft mit dem Verweis auf seinen Betrachtungszeitraum. Demnach sei das Missionsdenken Miyakes in den Meiji 20er Jahren wie beschrieben zunächst in einen Zivilisationsdiskurs einzuordnen. Imperialistische Tendenzen seien erst mit der Zeit stärker hervorgetreten. Angesprochen auf viele im Vortrag geäußerte Mutmaßungen über das Denken Miyake Setsureis erklärte Robert Kraft, dass sich diese auf die Lektüre zahlreicher Texte (und die Arbeit an der Übersetzung eines dieser Texte) des Philosophen stützten, die zwar nicht in jedem Fall mit letzter Sicherheit, aber doch zu einem gewissen Grad Aufschluss über sein Denken und rezipierte Einflüsse geben könnten. Dem Hinweis, dass eben solche Einflüsse auch aus der östlichen und nicht nur der westlichen Philosophie gestammt haben könnten, stimmte Robert Kraft seinerseits mit dem Hinweis zu, in seinem Vortrag nicht das Gegenteil behauptet zu haben. Auf die Frage, ob Miyake nur allgemein vom „Westen“ gesprochen oder sich auch konkret zu einzelnen Ländern geäußert habe, erklärte Robert Kraft, dass es zwar einer erneuten, gezielten Analyse der entsprechenden Quellen bedürfe, um zu ermitteln, welche Aussagen sich dort in concreto zu einzelnen Ländern finden und wie selbige einzuordnen sind, für seine Untersuchung jedoch zunächst der Befund genüge, dass Miyake beim Vergleich der „östlichen“, besonders der „chinesischen und indischen Philosophie“ (so nennt Miyake den Konfuzianismus und den Buddhismus) mit dem, was er als „westliche Philosophie“ bezeichnete, zahlreiche europäische Länder unter dem Begriff „Westen“ subsumierte.
Fritz Schumann (Berlin): Giftgas und Kaninchen: Die Geschichte von Ōkunoshima
Den dritten Vortrag hielt der Journalist Fritz Schumann (Berlin) zum Thema „Giftgas und Kaninchen: Die Geschichte von Ōkunoshima“. Über die Insel Ōkunoshima in der Präfektur Hiroshima heißt es, diese Insel habe drei Kriege erlebt, da sie bereits für den Russisch-Japanischen Krieg als Verteidigungsanlage ausgebaut, im Zweiten Weltkrieg für die Herstellung von Giftgas und im Koreakrieg als Versorgungsbasis genutzt wurde. Von 1929 bis 1944 wurden dort Giftgas und chemische Kampfstoffe für den Einsatz in China hergestellt. Die Basis war geheim, selbst die Mitarbeiter schwiegen bis in die 1980er Jahre über ihre Arbeit. Auch wenn die japanische Regierung bis heute den damaligen Einsatz tödlichen Gases abstreitet, so finden sich bis heute in China und in Japan Spuren der Chemikalien und befüllte Sprengkörper, die in beiden Ländern Menschen krank machen.
Das Gas, welches auf Ōkunoshima gelagert wurde, hatte das Potential mehrmals so viele Menschen zu töten, wie im heutigen Tōkyō leben. Es war die größte Fabrik ihrer Art in Asien. 1946 wurden die Restbestände vergraben, im Meer versenkt oder im Land verteilt. Dabei ist Giftgas wie Uran oder radioaktive Kampfstoffe noch Jahrzehnte nach der Entsorgung gefährlich. Bis 2008 sind Fälle dokumentiert, in denen Menschen in Japan Überreste entdeckten und anschließend erkrankten oder sogar starben. Im 19. Jahrhundert entstand hier eine Basis für den Russisch-Japanischen Krieg. Im 2. Weltkrieg rüstet man auf, um zunächst Giftgas nach deutschen und französischen Design zu produzieren, und später auch nach eigenen Rezepten. 1946 säuberten die Alliierten die Insel – nur um sie kurze Zeit später als Basis und Versorgungstation für die amerikanische Marine im Korea-Krieg zu nutzen.
Heute ist Ōkunoshima als die „Kaninchen-Insel“ bekannt. Durch zahlreiche Online-Videos, in denen hunderte Kaninchen auf die Besucher stürmen, erlangte die Insel eine erneute Berühmtheit, obwohl die dunkle Geschichte der Insel selten erwähnt wird. In den 1960er Jahren wurde Ōkunoshima zum Erholungsgebiet erklärt und die Kaninchen gezielt angesiedelt. Wo früher die Giftgas-Fabrik stand, ist heute ein Hotel. Über der Abteilung, wo nach deutschen Rezept gebraut wurde, steht heute ein Tennisplatz. Erst Ende der 80er Jahre wurde auf Drängen von lokalen Aktivisten ein Museum eingerichtet, das durch Spenden finanziert werden konnte. Dort wird auch die Täterseite thematisiert und es gibt regelmäßige Seminare für die, die mehr über die Geschichte erfahren wollen.
Doch die wenigen, die sich an die Fabrik erinnern oder die dort sogar als Schüler arbeiteten, und die wenigen Freiwilligen, die über die Vergangenheit aufklären, gehören der älteren Generation an. Über die Geschichte der Insel ist Gras gewachsen — über das Kaninchen hüpfen. Fritz Schumann plant einen Dokumentarfilm über die Problematik des Umgangs mit Giftgas im Nachkriegsjapan, zu dem er in der Diskussion ermutigt wird.
Weitere Informationen zu Herrn Schumann und seinem Projekt finden sich auf seiner Internetseite.
Glenn Bauer (Heidelberg): Die beginnende deutschsprachige Japanforschung im 19. Jahrhundert.
Zum Abschluss des ersten Tages hielt Glenn Bauer (Heidelberg) einen Kurzvortrag zum Thema „Die beginnende deutschsprachige Japanforschung im 19. Jahrhundert“. Darin stellte er seine Masterarbeit vor, in der er sich detailliert mit der die frühe Japanforschung nach der erzwungenen „Öffnung“ Japans beschäftigen will; denn während die frühe Genese der Japanologie vor 1853 in der deutschsprachigen Forschung durchaus Aufmerksamkeit genießt, gibt es über die Folgezeit einige nur einige wenige Überblicksdarstellungen sowie das umfassende bibliographische Werk Wolfgang Hadamitzkys.
Im Rahmen dieses Projekts soll anhand von Zeitschriftenartikeln in wissenschaftlichen Journalen im deutschsprachigen Raum zwischen 1853 und 1900 das wachsende akademische Interesse an Japan und die sich daraus ergebende Japanforschung untersucht werden. Dabei sollen anhand von zwei Schwerpunktthemen – Forschung über die Geschichte Japans vor 1853 und Forschung über aktuelle politische Entwicklungen – zum einen Veränderungen der Artikel und Akteure im Laufe des Betrachtungszeitraums beleuchtet, sowie potentielle Unterschiede im Rahmen der Diskurs- und Argumentationsschwerpunkte herausgearbeitet werden. Aufgrund der großen Maße der Publikationen in Zeitschriften wird die Untersuchung auf den deutschsprachigen Raum, die zwei umrissenen Forschungsfelder und den genannten Betrachtungszeitraum begrenzt; denn ab 1900 liegt eine zu große Anzahl der Zeitschriftenartikel vor, um noch in der Masterarbeit berücksichtigt werden zu können.
Neben den diskursgeschichtlichen Punkten soll auch in den Blick genommen in wie weit sich Zeitschriftenartikel gegenseitig zitieren bzw. aufeinander Bezug nehmen, also ob sich Forschungszirkel beginnen herauszubilden. Auch ist dabei von Interesse, welche Rolle der Kontakt mit bzw. der Aufenthalt in Japan spielt und ob sich durch die Hinzunahme japanischer Quellen rasch Wissenshierarchien herausbilden. Von besonderem Interesse ist hierbei die Frage, ob sich die „Spaltung“ in frühe japanologische Forschung und „reguläre“ historische Forschung bereits aufzeigen lässt, wie sie auch heute in vielen Hochschulen und Forschungsstandorten tradiert wird.
In der Diskussion wird darauf verwiesen, dass in der Arbeit die Bücher außer Acht gelassen werden, die von Wissenschaftlern zu Japan verfasst wurden, die eher in den Sozialwissenschaften verortet als der Japanologie zugerechnet werden. Glenn Bauer erklärt dies mit der Notwendigkeit, das Quellenmaterial einzugrenzen.
Stefan Köck (Wien): Antisemitismus und Denunziantentum als einzige Option? – Ramming, Gundert und Handlungsmöglichkeiten für Japanologen in der NS-Diktatur.
Der Zweite Tag des Initiative-Treffens begann mit einem Vortrag von Stefan Köck (Wien) zum Thema „Antisemitismus und Denunziantentum als einzige Option? – Ramming, Gundert und Handlungsmöglichkeiten für Japanologen in der NS-Diktatur“. Spätestens seit Studien wie Worm (1994), Hack (1995), Schütte (2004) oder Bieber (2014) ist bekannt, dass der größte Teil der offiziellen Vertreter der deutschsprachigen Japanologie in der Zeit der NS-Diktatur das System mitgetragen haben und in unterschiedlicher Form zu Tätern wurden. In seinem Vortrag schilderte Köck einen Fall, der aus den Akten des ehemaligen Japan Instituts Berlin ersichtlich ist, die im Rahmen des Projekts „Reconstruction of the Holdings of the former Japan Institute Berlin (1926 – 1945)“ im Jahr 2016 an der Ruhr-Universität Bochum gesichtet werden konnten. Die Akten wurden der Fakultät für Ostasienwissenschaften in den 1970er Jahren von Martin Ramming überlassen. Dabei ging es konkret um einen Besuch des französischen Japanologen Charles Haguenauer in Deutschland im Jahr 1937, bei dem er auch seine deutschen Kollegen treffen wollte. In seinem Vortrag schilderte Stefan Köck, wie sich an dem Verhalten von Martin Ramming (1889 – 1988, deutscher Leiter des Japaninstituts) und Wilhelm Gundert (1888 – 1971, Professor in Hamburg als Nachfolger von Karl Florenz) unterschiedliche Haltungen zur NS-Diktatur offenbarten. Zwar waren beide Mitglied beim NSDDB, aber Gundert war 1934 in die NSDAP eingetreten. Ramming dagegen hielt sich politisch zurück, was auch in Kollegenkreisen bekannt war.
Charles Haguenauer hatte sich zunächst mit der Nachricht an Ramming gewandt, dass er eine Studienreise nach Deutschland plane, und bat diesen um Terminabstimmung. Diese Terminvermittlung wurde von Ramming vorangetrieben, doch zeigte sich bald, dass Wilhelm Gundert diese Gelegenheit nutze, Ramming politisch und ideologisch unter Druck zu setzen. Für Ramming entstand so die Notwendigkeit, sich in der Sache an das Auswärtige Amt zu wenden. Die dadurch erhaltenen Briefe zeigen, das Gundert sich deutlich mit nationalsozialistischem Gedankengut identifizierte. Ramming hielt eine distanzierte Haltung zum Regime, verteidigte Haguenauers Pläne (der Jude war) und vermied jeglichen Verweis auf diese religiöse Zugehörigkeit des Kollegen. Es ist allerdings nicht bekannt wie die Begebenheit schließlich ausging, da sich hierzu bisher keine Dokumente finden ließen.
Das Beispiel zeigt laut Köck, wie unterschiedlich ausgeprägt die Haltungen in der Japanologie der NS-Zeit sein konnten. So gab es auf der einen Seite parteitreue Antisemiten wie Gundert, auf der anderen Seite Kollegen wie Ramming, die Distanz zum Regime hielten – um Zugeständnisse allerdings auch nicht herumkamen.
Die Frage, wie sich die heutige Japanologie zu ihren Vertretern und Werken aus der NS-Zeit verhalten soll, beschäftige denn auch die Anwesenden in der anschließenden Diskussion, bei der man sich auch angeregt darüber austauschte, wie die einzelnen Institute und Standorte diese Thematik in Lehre und Forschung einfließen lassen bzw. auf die Agenda setzen könnten.
Wolfgang Gerhard Thiele (Berlin): Dekolonisations- und Menschenrechtsdiskurs im Taiwanischen Nationalismus, 1960–2002.
Den zweiten Vortrag des Sonntags bestritt Wolfgang Gerhard Thiele (Berlin) mit seinem Vortrag über „Dekolonisations- und Menschenrechtsdiskurs im Taiwanischen Nationalismus, 1960–2002“.
In Tōkyō formierte sich 1950 die Taiwanische Unabhängigkeitspartei (Taiwan dokuritsu tō) unter der Führung von Liao Wenyi, die 1955 in der selbsternannten Exilregierung der Republik Taiwan (Taiwan kyōwakoku rinji seifu) unter Führung desselben aufging. Seitdem war Japan das Zentrum der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung (TWU) im Exil. Ziele der Bewegung waren das Ende der Diktatur der (bis 1988 von Festlandchinesen dominierten) Chinesischen Nationalistischen Partei (KMT) in Taiwan und die Gründung eines taiwanischen Nationalstaates, so dass Taiwan unabhängig von der Volksrepublik China (VRC) bliebe. Seit der Rückkehr Liaos nach Taiwan 1965 (aufgrund von Drohungen der KMT gegen seine Familie, die noch in Taiwan war) bildete der Kreis um die 1960 in Tōkyō gegründete und interkontinental verteilte Studenten-Zeitschrift Taiwan Chinglian* (Taiwan seinen) den Mainstream der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung. Nach dem Vorbild von Taiwan Chinglian gründeten sich während der 1960er in Nordamerika und Westeuropa weitere nationale Verbände der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung, die sich 1970 zu World Formosans for Independence (Taiwan dokuritsu kenkoku renmei, WUFI) mit Sitz in New York vereinigten. Im Laufe der friedlichen Demokratisierung Taiwans nach 1987 kehrten die meisten Exil-Aktivisten nach Taiwan zurück, wobei sich ein Großteil der 1986 gegründeten (und derzeit regierenden) Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) anschloss und 1996 auch den ersten Präsidentschaftskandidaten der DPP, Peng Mingmin, stellten.
Schwerpunkt von Wolfgang Thieles Arbeit und Vortrag ist die Entwicklung der Doktrin des Taiwanischen Nationalismus innerhalb der Mainstream-Fraktion der Unabhängigkeitsbewegung in Japan, die er anhand der von 1960 bis 2002 publizierten Monatszeitschrift Taiwan Chinglian aufzeigt.
Dabei zeigt sich, dass sich die TWU mit anderen Antikolonialbewegungen identifizierte (z.b. in Algerien), woran ein bis in die 1990er anhaltenden anthi-chinesischer Ethno-Nationalismus Diskurs beitrug. Letzteres wurde in der bisherigen Forschung anders dargestellt. Beide Phänomene beeinflussten die Doktrin der TWU insbesondere in den späten 60er und frühen 70er Jahren stark. Ähnlich verhielt es sich mit einem zweiten Schub, ausgelöst durch die Revolution in den Philippinen und das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika in den 80er und 90er Jahren. Diese Ausrichtung der TWU an der sogenannten „Dritten Welt“ wurde bisher nur unzureichend beleuchtet. Im Anschluss an den Vortrag wurde die Frage aufgeworfen in wie weit denn Diskussionen zum Kommunismus innerhalb der TWU geführt wurden, was Thiele bejaht, aber im Vortrag ausgespart hatte um sich auf die anti-koloniale Thematik fokussieren zu können. Auch die Rolle der japanischen Regierung, die Thiele grade mit Blick auf die gegenwärtige Zeit mehrfach thematisierte mit Verweis auf die Verbindung zwischen DDP auf taiwanesischer und LDP auf japanischer Seite, wurde hinterfragt. Letztere tolerierte die Aktivitäten der TWU in Japan ja auch nach dem Nixon-Schock 1973 – warum? Thiele nahm dies als dankbare Anregung auf.
Lisette Gebhardt (Frankfurt a.M.): Die Historisierung moderner japanischer Literatur und ihrer Erforschung – Japanologische Fachgeschichte, zeitgeschichtliche Perspektiven, Zeitgeist.
Den dritten Vortrag des Sonntags bestritt Lisette Gebhardt (Frankfurt/Main) mit dem Thema: „Die Historisierung moderner japanischer Literatur und ihrer Erforschung – Japanologische Fachgeschichte, zeitgeschichtliche Perspektiven, Zeitgeist“.
Das Abstrakt skizziert die Situation, wie Gebhardt sie beschreibt: Der renommierte Literaturhistoriker Donald Keene ist seit vier Jahren temporäres Lebendausstellungsobjekt in seinem eigenen Museum in Niigata. Ōe Kenzaburō feiert 2018 seinen 83. Geburtstag und für Murakami Haruki, den literarischen Revolutionär der 1980er, wird bereits das 40. Jahr seines Wirkens registriert. Wird man sich als Japanologe der Geschichtlichkeit seiner Forschungen bewusst, stellt eine Bilanzierung den nächsten Schritt dar – man ist Teil dieser Phasenverschiebung ins Historische geworden. Als Zeitzeuge japanologisch-literaturwissenschaftlicher Forschung ist die Veränderung der Forschungslandschaft einer bewussten Beobachtung im Sinne zeitgeschichtlicher Betrachtung wert. Japanologie, eine Wissenschaft, die sich im Geiste altphilologischer Quellenkunde nach 1900 an deutschen Universitäten etablierte, gedieh nach 1945 als philologisches Bestreben in der alten BRD, um sich vielleicht erst nach der sozialwissenschaftlichen Wende der 1970er in den 1980er Jahren neuen Strömungen zu öffnen. Frei nach dem Motto „Historiker entdecken die eigene Zeit“ (Jan Eckel) setzt sich Gebhardts Projekt – dass sie auf dem Orientalistentag in Jena erstmals vorstellte — eine zeitgeschichtliche, kritisch argumentative Reflexion japanologischer Fachgeschichte zum Ziel – von den Entwicklungen nach 1945 bis hin zu den neueren und neuesten Entwicklungen im Zeichen von Bildungsreform und der Bologna-Reformen der frühen 2000er Jahre. Dabei skizzierte Gebhardt wie sich eine kritische Japanologie formieren könnte. So sollte eine moderne, reflektierte Literaturgeschichte, angereichert durch eine Fachgeschichte, welche die ideologischen Konjunkturen offenlegt, Teil der Seminare werden. Dazu gehöre auch die Frage nach Wechsel von Forschungsschwerpunkten (und Bewusstmachung nicht-behandelter Themen) und Begrifflichkeiten sowie die Hinterfragung der Forschung im Nachgang der Fukushima-Katastrophe. Gebhardt plädierte nachdrücklich dafür, dass sich die europäische Japanologie nicht von der Kritik, wie sie z.B. im 2017 erschienen Buch „Rethinking Japanese Studies“ (von Okano Kaori und Sugimoto Yoshio) formuliert wurde und den immer mehr von immer mehr von einem „akademischen Markt“ bestimmten Themensetzungen beindrucken lassen solle.
Es entbrannte im Anschluss eine kontroverse Diskussion über die Lage des Fachs, die in einigen Punkten nahtlos an den Vortrag von Köck am Morgen anschloss. Schwerpunkt der neuerlichen Diskussion wurde die Frage, in wie weit japanische Institutionen – meistens „Forschungsinstitute“ — versuchen die Japanologie in Europa (wobei sich aufgrund der Teilnehmer meistens auf deutsche Beispiele bezogen wurde) zu beeinflussen und deren Agenda auf die „richtigen“ Inhalte zu lenken. Insbesondere die Frage nach Religionsforschung, die in den letzten Jahren wieder sehr viel Fahrt aufnahm, ist dabei häufiges Thema von japanischer Seite aus.
Ami Kobayashi (Berlin): Der Gang als politische Choreographie – Politische Schulfeier zur Nationalstaatsbildung in Deutschland und Japan (1873–1945).
Der letzte Vortrag des Initiativetreffens beschäftigte sich wieder mit der Zeit vor 1945. Ami Kobayashi (Berlin) stellte dabei ihre Dissertation zum Thema „Der Gang als politische Choreographie – Politische Schulfeier zur Nationalstaatsbildung in Deutschland und Japan (1873–1945)“ vor.
In dieser wird der Gang als politische Choreographie, die eine (staats-) politische Bedeutung repräsentiert, analysiert. Im Kontext der Entstehung moderner Nationalstaaten wurde u.a. durch Einführung der Schulpflicht und des Militärdienstes der normierte Gang als pädagogische Praxis u.a. im Bereich des Turnunterrichts und militärischer Übungen (Marschieren) zum Gegenstand der Erziehung. Dabei beschäftigt sich Kobayashi vor allem mit der Frage, mit welchen Mitteln die modernen Staaten den unterschiedlichen individuellen Gang ihrer Staatsbürger zu vereinheitlichen und politisch zu „choreographieren“ versuchten und welche pädagogischen Diskurse und institutionalisierten Einübungspraktiken es dabei gab. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem in Turnstunden choreographierten Gang, dessen Zweck eine erfolgreiche Aufführung (schön und stolz aufmarschieren) bei politischen Veranstaltungen war. Bei politischen Schulfeiern war der Doppelcharakter des Gangs, nämlich zugleich individuelle Bewegung und Element einheitlicher Nationalstaatlichkeit, besonders sichtbar.
In ihrer Dissertation vergleicht Kobayashi Marschübungen und politische Schulfeiern der deutschen Gymnasien und japanischen Junior High Schools (kyūsei chūgakkō). Beispielhaft werden hierzu die Hauptstädte beider Länder, die auch Zentren politischer Feierlichkeiten, herangezogen.
Als Quellen werden hauptsächlich die Jahresberichte der Berliner Gymnasien, die Schul-Club-Zeitschriften der japanischen Sekundarschule (gakuyūkai zasshi) und weitere relevante Dokumente aus dem Brandenburgischen Landesarchiv (Akten des Provinzial Schulkollegiums) und aus den Tōkyō Metropolitan Archives berücksichtigt. Dabei zeigt sich, dass das Tragen von Kimono und Yukata sowie die Arbeit im Reisfeld in Japan eher für eine „abstützende“ Form des Laufens sorgen, die aber nicht in das Bild eines Nationalstaates nach „westlichem“ Vorbild passten. Daher wurden, v.a. nach preußisch-deutschem Vorbild, nach und nach Marschier- und Disziplinär-Übungen eingeführt. Besonders mythologisch nationalistisch erhöhte Termine wurden dabei besonders zu solchen Übungen und Zeremonien genutzt, die sukzessive immer weiter formalisiert wurden. Die Wurzeln dieser Zeremonien finden sich dabei z.B. in der Anrufung von Sugawara no Michizane (Als Tenman-Tenjin bzw. Tenjin im Shintō verehrt) in terakoya (寺子屋) und anderen religiösen Zeremonien der Edo-Zeit. Vor allem das Singen von Liedern war dann eine der Neuerunger der Meiji-Zeit, die auch von deutschen Beispielen beeinflusst wurde.
Ab den 30er Jahren fand eine zunehmende Radikalisierung statt (ähnlich in Deutschland durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten). So wurden Marschier- und Leibesübungen immer wichtiger und die Schulfeiern nahmen auch einen immer stärker militaristischen Charakter an. Dabei sollte das einheitliche Marschieren den patriotischen Geist verkörpern. Dieses Phänomen endete in beiden Ländern abrupt 1945 durch das Ende des Krieges.
Im Anschluss wurde nachgefragt in wie weit man schon in der Edo-Zeit von choreographierten Gang sprechen könne in Hinblick auf das sankin kōtai (参勤交代) Prinzip. Fr. Kobayashi verwies auf den Zweck dieser Regel als Machtdemonstration und Kontrolle durch das bakufu, weshalb hier die Art des Gangs nicht im Mittelpunkt stand, sondern die reglementierte Zusammensetzung der Reisegruppen und die Regelmäßigkeit der Reisen.
Organisatorisches:
Am Ende wurde noch folgende Organisatorische Punkte besprochen:
Maik Hendrik Sprotte erinnert daran, dass er weiterhin gerne Meldungen von Publikationen für die von ihm administrierte betriebenen Bibliographie zur historischen Japanforschung entgegennimmt. Außerdem wies er darauf hin, dass aufgrund einer internen Umgestaltung der Internetpräsenz der „Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens“ (OAG, Tokyo) gegenwärtig ca. 200 Verlinkungen zu Volltexten aus Publikationen der OAG auf deren Internetseite nicht mehr funktionieren. Der erforderliche Zeitaufwand für die Reparatur dieses Problems sei aber so groß, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig unklar sein, in welcher Weise und wann diese erfolgen kann.
Die nächste, 31. Tagung der Initiative wird am 16. und 17. Juni 2018 beim CEEJA (Centre Européen d’Études Japonaises d’Alsace) in Kintzheim im Elsaß stattfinden. Sie wird von Anke Scherer (Köln) und Regine Mathias (CEEJA) organisiert werden. Einzelheiten dazu werden auf der Internetseite der Initiative veröffentlicht, sobald sie vorliegen.
(Protokoll: Glenn Bauer & Anke Scherer) |